ER – In Chongqing, der größten Stadt der Welt

Erster Abend in unserem Hostel mit Ya

Erster Abend in unserem Hostel mit Ya

Es ist wie Weltreise für Zuhause. Diesen Satz schrieb ich vor nicht einmal sechs Monaten über unser erstes Couchsurfing-Erlebnis mit Ya.

Ya, 21, Germanistik-Studentin hatte uns ein Wochenende in Hamburg besucht. War mit uns auf den Kiez gegangen, auf die Reeperbahn und den Fischmarkt und war zum Grillen mit zu den Schwiegereltern gekommen. Die Stadt fühlte sich für sie klein an, das Leben leicht und frei.

SIE und Ya in der letzter U-Bahn Richtung Innenstadt. Immerhin um 22.20 Uhr

SIE und Ya in der letzten U-Bahn Richtung Innenstadt. Immerhin um 22.20 Uhr

„Hey, wenn wir auf Weltreise sind, besuchen wir dich.“ Nicht mehr als ein Satz, inhaltslos, so schnell dahingesagt wie ein schneller Fingerstreif über die Weltkarte an Yas Wohnort, von dem ich vorher nie was gehört hatte.

Chongqing also. Dieses urbane Ungetüm, 30 Million Einwohner, ein Stadtstaat so groß wie Österreich. Ya will uns abholen, hat sie geschrieben. Sie wartet am Bahnhofsausgang. Gelbes Kleid, hohe Schuhe, neue Frisur mit gefärbten Haaren. Ich bin zuerst an ihr vorbei gelaufen, zum Glück hat sie uns erkannt. Die U-Bahnen in China machen früh zu, wir kommen um 22 Uhr in Chongqing an, es sind rund zehn Kilometer zum Hostel.

Das Hostel im unteren Stock inmitten der Betonwüste

Das Hostel im unteren Stock inmitten der Betonwüste

Ya wollte unbedingt den Abend mit uns verbringen, sie hat sich ein Bett im selben Hostel gemietet wie wir. Sie würde uns gerne aufnehmen, aber ihre Uni ist fast zwei Stunden mit der U-Bahn entfernt, ihre Eltern wohnen drei Stunden mit dem Bus im Süden.

Es sind Größenverhältnisse, die man nur in Megastädten wie dieser versteht. Als müsse man sich in Charlottenburg ein Zimmer nehmen, weil man nicht mehr nach Friedrichshain kommt. Unser Hostel liegt im sechsten Stock, ganz unten vom Gebäude, wieder der China-Maßstab.

Shopping in Chongqing

Shopping in Chongqing

Ya zeigt uns den Jangtse, der gewaltig und braun durch Chongqing läuft. Diesen Teil der Stadt kennt Ya nicht so gut, sie wohnt auf dem Campus, eine Stadt in der Stadt. Und hat uns für die nächste Nacht ein Hotel dort gebucht, weil sie sich revanchieren will aber keine Couch hat, sie teilt sich ihr Zimmer mit drei Kommilitoninnen. Uns erwartet ein Luxus-Zimmer für wenig Geld. Normalerweise ist das Klientel studentische Paare. Auf der Uni lebt man in getrennten Studentenwohnheimen, vier Mann oder Frau – aber nie beides – pro Zimmer für umgerechnet 150 Euro im Jahr.

Gelb? Eher brauner Fuss. Davor wird ein Binnenhafen gebaut, hätte ja noch ein schöner Ausblick werden können

Gelb? Eher brauner Fuss. Davor wird ein Binnenhafen gebaut, hätte ja noch ein schöner Ausblick werden können

Unser 12-Euro-die-Nacht-Zimmer liegt ganz hinten, falls die Polizei kommt. Die Rezeption hat nicht die nötigen Papiere, um Ausländer aufnehmen zu können. Die werden Nacht für Nacht von den Hotels bei den Behörden registriert. Abends führt uns Ya in ihren Lieblings-Laden, nur eine halbe Stunde von ihrer Uni entfernt in einen anderen Stadtteil – oder eine andere Stadt, je nach Definition.

Feuertopf ist die Spezialität der Riesen-Stadt. Es brennt unterm Topf und auf der Zunge

Feuertopf ist die Spezialität der Riesen-Stadt. Es brennt unterm Topf und auf der Zunge

Es gibt Feuertopf, eine Spezialität aus Chongqing. In die Mitte kommt ein großer Topf mit Öl und Gewürzen, wir bestellen nach Herzenslust Fleisch und Gemüse. Und das was für Ya zu jedem Feuertopf gehört: Entendarm (schmeckt wie Nudeln) und Schweinehirn (schmeckt wie fetter Glibber).

Wir können mit ihr eine Deutschstunde besuchen, sie ist per Du mit der Dozentin. Zwei Studentinnen halten Vorträge über „Das Parfum“ von Patrick Süßkind und „Der Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt. Schul-Gefühl, auch weil die eigentlich erwachsenen Frauen kichern, als das Wort „Sexorgie“ erklärt wird.

Töpfchen mit Köpfchen: Schweinehirn im Feuertopf

Töpfchen mit Köpfchen: Schweinehirn im Feuertopf

Ya hat das Jahr in Deutschland verändert. „Ich bin eingedeutscht“, sagt sie. Sie liest Spiegel und Tagesschau auf dem Tablett, raucht in der Öffentlichkeit, weil sie es nicht einsieht, dass sich das für Frauen eigentlich nicht gehört. Und sie hat zwei Langnasen im Schlepptau, führt sie durch die Uni, in eine der vier überdimensionierte Mensen. Abends ist um 23 Uhr Sperrstunde im Wohnheim, da schließt der Hausmeister die Tür ab.

Deutschstunde: Kein Wunder, dass Ya so gut spricht

Deutschstunde: Kein Wunder, dass Ya so gut spricht

Ya muss an beiden Abenden ihr Handy zücken und ihn anrufen, dabei riskiert sie einen Eintrag in ihre Studenten-Akte. „Das kriege ich schon hin“, sagt sie und man will es glauben, weil sie so viel stärker ist als diese anderen Kinder, die mit 21 Jahren jeden Abend in der Bibliothek hocken, lesen und noch nie aus waren, noch nie einen Freund hatten. Für die vielleicht auch irgendwann die Eltern auf einen Heiratsmarkt einen passenden Mann finden, ohne dass die Mädchen ein Wort zu sagen haben werden.

Feuertopf mit Spießen am zweiten Abend. Natürlich kam Ya danach wieder zu spät in ihr Wohnheim

Feuertopf mit Spießen am zweiten Abend. Natürlich kam Ya danach wieder zu spät in ihr Wohnheim

Ya ist anders, eingedeutscht vielleicht, stark auf jeden Fall. Und gibt mir plötzlich das Gefühl von einem Stück Zuhause auf Weltreise.

 

 

 

 

 

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