Dieser Klang dröhnt in meinen Ohren nach. Er lässt mich nicht los. Den ganzen Tag über nicht. Das Geräusch, wenn eine Axt Knochen zerhackt. Dieses dumpfe Knacken, das durch die Steppe hallt.
Vielleicht hämmert es in meinem Kopf, weil ich mich so geschämt habe. Mittwochmorgen um kurz vor Sieben. Als ich in der Kleinstadt Litang in Sichuan in der Steppe stand – 300 Meter entfernt von einer tibetischen Himmelsbestattung. Als Tourist auf einer Beerdigung.
Hatte mich auch die Neugier auf diese andere Kultur hierher gelockt, bin ich doch geschockt von mir selbst, als ich die Menschen sehe, die eine Leiche in die Steppe tragen. Keiner sagt, dass wir gehen sollen, aber es hat uns auch keiner eingeladen. Akshay (21) aus den USA spricht Chinesisch und erzählt uns, dass die Familie bei Himmelsbestattungen nie dabei ist. Trotzdem fühle ich mich fehl am Platz. Mich hat der Gedanke dieser Art der Beerdigung so fasziniert. Die Tibeter wollen etwas an das Universum zurückgeben. Sie glauben an den Kreislauf, daran, dass die Geier den Verstorbenen ins Bardo bringen, in den Zustand zwischen Tod und Wiedergeburt. Schöne Symbolik, schöner Gedanke, die Umsetzung ist es nicht.
Ich fühle mich zwar nicht wie eine Totenschänderin, aber wie eine Totenglotzerin. Und das, obwohl ich die Leiche nicht erkennen kann. Ich zucke zusammen, als tatsächlich Geier am Himmel erscheinen und sich auf einem Hügel niederlassen. Ich zucke zusammen, als sich die Leichenbestatter, die Ragyapas, von dem Toten entfernen und sich die Geier zuerst in einer Schlange aufstellen und dann auf den Leichnam stürzen. Ich zucke zusammen, als die Geier sich wieder zurückziehen und darauf zu warten scheinen, dass die Leichenbestatter die Knochen für sie zerteilen. Und das tun sie.
Nach der tibetischen Tradition hat sich die Seele des Toten längst verabschiedet. Das sind nur die Knochen eines Körpers. Denn nach dem Tod wird der Leichnam im Haus drei bis fünf Tage weiter symbolisch mit Essen versorgt. In dieser Zeit liest ein Lama dem Verstorbenen aus dem Tibetischen Buch der Toten vor, um die Seele zum Verlassen des Körpers zu bewegen.
Meine liebe Oma hat immer gesagt: Wenn jemand stirbt, musst du das Fenster öffnen, damit die Seele gehen kann. Ihrer Seele stand der Weg offen. Ich habe das Fenster selbst geöffnet, weil Oma mich darum geben hat. Kurz bevor ich das Krankenhaus verlassen habe und sie uns.
Ich bin dankbar, dass der Tod in meiner Familie kein Tabu ist. Sondern ein unbeschreiblich trauriger Moment, den wir teilen. Und ich bin dankbar, dass ich erleben durfte, wie Tibeter mit dem Tod umgehen – und das, obwohl wir nicht nach Tibet gereist sind. Hätten sie mich weggeschickt, hätte ich nicht erlebt wie nah sich Leben und Tod auch hier in Litang – soweit entfernt von meinem Zuhause – sind.
Hier gehört der Tod zum Alltag, ob es die Himmelsbestattung ist, die immer montags, mittwochs und freitags stattfindet, oder das Schlachten der Tiere. Auf dem Rückweg durch die kleine Stadt eröffnet gerade der Markt. Männer mit halben Yaks über der Schulter, Frauen mit Weintrauben und Granatäpfeln auf einem Holzwagen. Ein kleines Mädchen fegt mit ihrer Mutter die Straße, in der Mitte steht eine Kuh und die Autos fahren an ihr vorbei. Vor den Läden an der Hauptstraße dampfen Dumplings. An einer Straßenecke wäscht sich eine Frau die Haare und bleibt sitzen, so als wollte sie sie von der Sonne trocknen lassen.
In all diesen Bildern sehe ich nur eins: das Leben. Und das, obwohl der Klang des Todes noch immer in meinen Ohren hallt.
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