ER – 2000Km mit dem Motorrad durch Vietnam

Honda Win 100cc

Meine Honda hat mich 2000 Kilometer durch Vietnam begleitet

Es ist 17.35 Uhr, als die Kette reißt. In knapp 45 Minuten geht die Sonne unter. Ich bin seit neun Tagen mit dem Motorrad unterwegs, einer Honda Win, 10 cc, viel zu schwach für die Berge in der nordvietnamesichen Provinz Ha Giang, für die westliche Besucher eine spezielle Erlaubnis der kommunistischen Regierung brauchen.

Der Scheinwerfer geht nicht, er hat noch nie funktioniert. Der Tank leckt nicht mehr als sonst, auch Öl müsste sie Maschine genug haben, das Rad eiert leicht, das macht bei den geringen Geschwindigkeiten nicht.

Aber jetzt ist die Kette kaputt. Und in 45 Minuten ist es dunkel auf dieser trockenen, roten Sandpiste, die den südostasiatischen Urwald durchschlängelt.

Dass man einen Gegenstand so hassen kann…

Doch bis dahin ist noch eine Woche Zeit…

 

Lisa war meine erste Liebe, eine Liebe, die wohl nur ein Mann verstehen kann. Lisa war mein erstes Motorrad.

Wir begegneten uns in einer Gasse in Hanoi, im März 2011. Sie war nicht gut in Schuss, doch ihr Herz war gut. Ein Australier war mit ihr aus Saigon im Süden des Landes über den Ho-Chi-Ming-Pfad bis nach Hanoi gefahren.

Er verkaufte sie mir für 2 Millionen Dong, rund 80 Euro.

Vier Gänge, Scheibenbremsen vorne, Trommelbremse hinten, beide eher nicht zu gebrauchen, um von ca 90 Sachen durch 100 Kubikzentimeter auf Null abzubremsen, wenn der nächste Bus um die Ecke rast. “Zum Hochschalten hoch, zum Runterschalten runter”, mehr sei da nicht, sagt der ehemalige Besitzer. Mit dem linken Fuß schalten, mit der linken Hand kuppeln.

Zwei Tage fahre ich durch Hanoi, erst morgens, dann auch während der Rush-Hour. Wer in Hanoi Motorradfahren lernt, der kann es auch. Tausende Moped-Fahrer drängen sich durch die engen Gassen. Beim Abbiegen versuchen alle, soweit wie möglich im Kurveninneren des hupenden Roller-Schwarms zu sein, um menschliches Puffer vor sich zu haben, falls der Gegenverkehr nicht rechtzeitig ausweicht.

Jason

Jason mit Bier

Geplant sind 2000 Kilometer über Son La bis Dien Pien Phu an der laotischen Grenze, durch Sapa im Norden, entlang der chinesischen Landesgrenze über die Berge bis ans Meer in die malerische Halong Bucht, in der Kalksteinfelsen steil aus dem Wasser ragen, und zurück nach Hanoi. Mein Mitfahrer ist Jason, 38, Amerikaner auf Weltreise. Als wir beschließen, zusammen auf Motorradtour zu gehen, kennen wir uns drei Stunden.

Wir fahren in Hanoi los, verfahren uns inmitten von Tausenden Mopeds. Ich muss schon jetzt die Luft bei Lisa aufpumpen. Wir fragen zwei, drei Mal nach dem Weg. Bestimmt sind wir 1,5 Stunden unterwegs, um uns zehn Kilometer vom Hotel zu entfernen. Nach einer weiteren Stunde machen wir eine Pause. Wer weiß, was die kleinen Motoren aushalten.

Hao Binh

Die Straße von Hao Binh – Hier geht es noch zivilisiert zu

Nach etwas über 30 Kilometern ist Schluss. Tropenregen zwingt uns für zwei Stunden zu einem Halt bei einem Kiosk, das Dach ist aus Bambus mit einer übergeworfenen Plastikplane gebastelt. Ein Tisch, ein Bett für Oma und Enkel, nur drei Wände.

Der Tropenregen schlägt mit ungeheurer Wucht gegen die Plane. Nach 30 Minuten geht das Licht aus, die Oma zündet eine Kerze an.

Ein Straßen-Bier mit einem Michelin-Vertreter (re.) und seinem Fahrer

Ein Bier in Hoah Binh

Die Nacht verbringen wir in Hao Binh, viel zu nah an Hanoi. Zu Essen gibt es Bun Bo, ähnlich der Nubelsuppe Pho, mit mehr Salat. Wir reden, so weit es geht, mit einem Mann aus Hanoi und seinem Fahrer, der für Michelin auf Dienstreise ist. Sie drängen uns, uns einzuladen. Auf ein Bier, dann ein anderes. Alles aus Plastik-Karaffen. Die Einladung auszuschlagen wäre unhöflich, sagt der Reifen-Mann. Nach ein paar Bieren bestellt er Reis-Porridge. Dann ab in die dreckigen Laken.

Ein Mechaniker überarbeitet meine Honda Win 100

Ein Mechaniker überarbeitet meine Honda Win 100

Am nächsten Tag hat Lisa Probleme, sie muss in die Werkstatt. Die Werkstätten in Vietnam sind Wellblechhütten, die von einer Familie betrieben und bewohnt werden. Jungs flexen den Motor auf, direkt an der Straße, nehmen unzählige Zahnräder und Teile auseinander. Das Öl fließt in den Boden. Es dauert fünf Stunden und drei Testfahrten, bis der Motorblock wieder ganz ist. Sie fährt, aber die Gänge zicken, vor allem der zweite fliegt immer wieder raus.

Schlafplatz

Schlafplatz

Wir übernachten in Bac Lac im ersten Stock eines Stelzen-Hauses auf einem Boden aus getrockneten Palmen-Blättern. Unser nächstes Ziel ist Son La, 140 Kilometer weiter.

Die Fahrt führt über einen nebelvergangenen Pass, 900 Höhenmeter. Sichtweise von unter zehn Metern, totaler Blindflug. Ich setze den Blinker rechts, so piept Lisa wie ein Lkw im Rückwärtsgang. Man hört mich kommen, hoffentlich.

Ich friere an Füßen, Knien und Händen. Im Tal wärmen wir uns in der Stadt Moc Chau in der gleichnamigen Provinz auf. Sie versorgt das kommunistische Land mit Milchprodukten.

Ich lege Schal, Jacke zum Trocknen aus. Wir setzen uns zum Essen an einen Holztisch. Die Mädchen am Herd tuscheln über uns, bedienen uns nicht, weil sie sich nicht trauen, kein Englisch sprechen. Das kommt öfters mal vor.

Frieren im Nebel

Frieren im Nebel

Wir schaffen es nach Son La, einer nichtssagenden Stadt, ein bisschen Industrie, keine Sehenswürdigkeiten. Der Hintern schmerzt, die Schultern ziehen. Ich schlafe wie ein Stein.

Die Straße Richtung Bien Bien Phu schlängelt sich durch tiefe Täler auf einer perfekt asphaltierten Straße, vorbei an Holzhütten, zwischen Bergen aus Kalkstein, die kerzengerade gen Himmel ragen. In den Flüssen waschen die Einheimischen ihre bunten Kleider. Das Gestein ist abwechselnd rot und weiß. Auf den Feldern ernten Frauen den Reis, die traditionellen spitzen Hüte schützen sie vor der bleiernden Sonne. Die Fahrt genieße ich, langsam, im vierten Gang, kaum Gas. Entlang der Straße winken die Menschen, lächeln, hupen.

 

Nach vier Tagen sind Jason, Lisa und ich in Dien Bien Phu. Das Guesthouse „Nha Nghi“ gibt uns ein innenliegendes Zimmer neben einer Apotheke an einer der zwei Hauptstraßen, die sich kreuzen und die Stadt ergeben. Das Licht ist aus: Die Zentralregierung in Hanoi hat das wohl so beschlossen: Da Stromknappheit im Land gilt und ein riesigen Staudammprojekt etwas nördlich noch nicht abgeschlossen ist, muss das Land sparen. Und Dien Bien Phu leidet darunter.

Die Stadt ist den meisten als Austragungsort der letzten Schlacht des Indochina-Kriegs zwischen den Befreiungskriegern der Viet Minh und Frankreich bekannt. Im Jahr 1954 beendeten die vietnamesischen Kämpfer die französische Kolonialherrschaft in Indochina, nach einer 57 Tage langen Belagerung des befestigten Hügels “Eliane”.

Das Museum („Historical Victory Museum“) in Dien Bien Phu beweist: Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Neben der Badewanne des französsichen Generals Henri Navarre, der sich mit einer Granate das Leben nahm, finden sich Fotografien aus Algerien und Kuba. Die Beschriftung, sinngemäß: Durch den Sieg in Dien Bien Phu ermutigt erheben sich die Algerier / die Kubaner gegen die regierenden Machthaber.

Nördlich von Dien Bien Phu

Nördlich von Dien Bien Phu werden die Straßen plötzlich schlechter. Sand statt Asphalt, dann Kies. Dazwischen Schlaglöcher. Ziel heute: Monong Lay.

Es ist ein Sinnbild für die irren Entscheidungen einer kommunistischen Regierung: Monong Lay hieß früher mal Lai Chau. Doch dann sollte Lai Chau überflutet werden, wegen eines Deich-Großprojektes. Also wurde eine andere Stadt 150 Kilometer weiter nördlich in Lai Chau unbenannt. Und Ex-Lai-Chau in Monong Lai. Die Einwohner sollten einsach umsiedeln.

Die schönen Bergen weichen Baggern, einer halbfertigen Brücke führt über die noch nicht geflutete Bucht. Wir wollen im Hotel „Lan Anh“ unterkommen. Doch davon steht nur noch das Gerippe.

Nach einer Fahrt durch knietiefes Wasser und durch roten Schlamm übernachten wir in einem Dorf. Lisa braucht einen neuen Kickstarter.

Lisas Gerippe

Lisas Gerippe

Das neue Lai Chau beginnt im Nichts. Die Straße ist eine Schotterpiste. Und plötzlich beginnt eine achtspurige Autobahn, die gerade an Lai Chau vorbei führt und nach ein paar Kilomtern wieder aufhört. Die zentralistische Planung hat verstörende Züge, denn Neu-Lai-Chau ist eine Geisterstadt, kaum jemand ist vom Staudamm hierher gezogen.

Die Motorräder werden bei jedem Hotel in die Lobby geschoben, damit sie nicht gestohlen werden. Doch morgens schaut mich der Hotelbesitzer grimmig an, zeigt auf Lisa, sagt „Xang“ – Benzin. Meine Honda hat ihren gesamten Sprit verloren. Der nächste Mechaniker muss einen neuen Tank einbauen, meine Lisa ist nicht mehr schwarz sondern rot, der Tank fasst einen guten Liter mehr.

 

Die Stadt Sapa ist für ihre Reisterassen bekannt – und daher touristisch überlaufen. Das eigentliche Highlight ist die Fahrt über dem Tran Ton Pass – auf 1900 Metern der höchte Pass Vietnams. Die Straße führt rund 20 Kilometer berghoch. Dem Motor gönnen wir zwei Mal eine Abkühl-Pause. Bei strahlendem Sonnenschein ist die Sicht auf die Spitze des Fransipan ungetrübt. Meine Kette ist rausgesprungen, ich muss sie straffen lassen.

Fahrt nach Sapa

Fahrt nach Sapa – kilometerweit führt die Straße bergauf

Nach Sapa kommt der Tag mit der gerissenen Kette, es ist ein Donnerstag. Eigentlich war Pho Rang, 80 Kilometer hinter Sapa das Ziel, doch wir kamen zu gut durch – also immer weiter, so weit wie möglich Richtung Norden, Richtung Ha Giang, dort, wo wir die Sondererlaubnis brauchen werden. Die Reise führt durch ärmliche Dörfer, ärmer als sonst. Dann Kilometerlang überhaupt nichts…

Plötzlich springt die Kette raus, ich muss sie mit einem Schraubenzieher wieder einfädeln! Auf der Straßenbegrenzungen entlang der Straße steht 15 Kilometer bis zur nächsten Stadt. Unklar, ob’s da auch Unterkünfte gibt… Weiter den Berg hoch, im kleinem Gang.

Es ist 17.35 Uhr, als die Kette reißt. Bald geht die Sonne unter. Seit neun Tagen bin ich mit Lisa unterwegs. Sie hat eine neue Hinterachse, einen überarbeiteten Motorblock, ein neues Kugellager, neue Bremsen vorne und hinten. Seit neun Tagen gibt es nur noch geschmacktsneutralen Pho, der Hintern schmerzt, die Schultern ziehen.

Und jetzt ist die Kette gerissen.

Ich schiebe Lisa die 500 Meter bis zum Gipfel hoch, haue den Leerlauf rein. Vier Kilometer schaffe ich bergab, ohne Motor, ohne Kette. Wir wissen, überall sind Mechaniker. Doch gerade jetzt, kurz vor Sonnenuntergang, haben die zwei nächsten Mechaniker zu. Erst der dritte kann meine Kette flicken. Um 18.25 Uhr stehen wir vor dem Hotel, die Sonne geht hinter dem Rohbau eines kommunistischen Gebäude unter.

In letzter Minute

In letzter Minute: Vom Hotel aus den Sonnenuntergang fotografiert. Übrigens: In diesem Hotel war seit 1,5 Jahren kein Nicht-Vietnamese mehr

Am nächsten Tag sind wir in der Provinz-Hauptstadt Ha Giang. Für die Reise nördlich von hier müssen Ausländer eine Sondergenehmigung haben. Nach Stunden führt die Straße über eine Brücke, rechts und links wehen roten Fahnen mit kommunistischem Pomp. In der Hauptstraße suchen wir ein Reisebüro, von dem im Reiseführer die Rede ist. Denn die sollen die Sondergenehmigung einfacher ausstellen, als die offizielle Einwanderungsbehörde. Wir fragen unseren Weg durch, die Straße ist fast verlassen.

Eine Militärparade in Ha Giang

Eine Militärparade in Ha Giang – einer der Militärs winkt vom Wagen aus

In einem Blumenladen fragen wir eine Frau, sie deutet uns an, ihr zu folgen. Wir fahren ihr ein paar Minuten hinterher, biegen links von der Hauptstraße ab. Auf einem schmalen Betonbau steht „Immigration office“. Mist, das wollten wir vermeiden, denn das soll ganz schön bürokratisch werden: Ausländer müssen die Motorräder für das Sperrgebiet registrieren. Dabei dürfen Ausländer gar keine Motorräder fahren. Wir steigen von den Motorrädern, gehen rein, sagen vorsichtig „hello“ und „permit?“

Das in Stein gemeißelte Lächeln der Einwanderungs-Offizierin verschwindet plötzlich, sie sagt in perfektem Englisch: „how can I help you“? und gibt uns die Unterlagen. Es dauert fünf Minuten, dann sind wir draußen. Und können am nächsten Tag weiter nach Norden – ganz offiziell.

Doch die Polizei hält Ausländer sowieso nicht an, hat man uns erzählt. Sie sind korrupt, scheitern aber am fehlenden Englisch. Lieber lassen sie sich von den Einheimischen schmieren. Stadtauswärts gebe ich Gas, überhole einen Laster. Vielleicht nur 70 Sachen, doch Lisa macht immer viel Lärm, der Auspuff ist kaputt. Da schießt ein Polizist hinter einer Ecke hervor, bläst in seine Trillerpfeife, schwingt die Kelle, zeigt auf mich. Ich hebe den Sichtschutz an meinem Helm. Er sieht mich, den Westler, dreht um und lässt mich weiter fahren.

Die Sondergenehmigung lohnt sich mit jedem Kilometer mehr. Es geht über den Quan-Ba-Pass, steil berghoch, an Reisfeldern vorbei, die sich wie mächtige überflutete Stufen in den Berg ritzen. Die Straßen sind in den Stein gehauen, vielleicht sogar mit Dynamit rausgesprengt. Am Horizont wachsen spitze Berge aus dem Boden, in unnatürlicher Symmetrie.

Der Fluss trennt Vietnam von China

Der Fluss trennt Vietnam von China

Hoch in den Bergen ändert sich die Vegetation. Statt Reis bauen die Bauern hier Mais an. Bambus und Palmen weichen dichten, kühlen Pinienwäldern. Keine Hetze, keine Kilometer fressen, die Kilometer nördlich von Ha Giang sind die schönsten des gesamten Trips!

Die beeindruckenste Szenerie verläuft direkt an der chinesischen Grenze, 20 Kilometer vor Meo Vac. Dort trennt ein Fluss die zwei Staaten, er verläuft zwischen zwei Bergen. Das ist der Punkt, der am weitesten von der Zivilisation entfernt ist. Hier gibt es nur die Straße, die Berge, den Fluss. An den Straßenseiten die vietnamesischen Minoritäten, rote, schwarze H’mong, die bis vor einer Generation noch kein Vietnamesisch konnten.

Der letzte Gedanke

Diese letzten Zeilen beschreiben nur etwa die Hälfte meiner Reise mit Lisa. Ich habe den Bericht gut drei Jahre später geschrieben, aus der Retrospektive. Wissend, dass ich das Motorrad zurück gefahren habe. Dass ich bei jedem Lkw rechtzeitig gebremst habe. Dass ich mir keine schlimme Krankheit eingefangen habe, abgesehen von einer Bronchitis abgesehen.

Deshalb fehlen Tausend Eindrücke. Die Lebensmittelvergiftung, die mich 8 Kilo leichter machte. Die Bronchitis, sieben Tage Antibiotika. Die Angst, dass gleich das Rad wegbricht. Die Wut, wenn der Kickstarter wieder mal streikt. Die zwei tödlichen Unfälle, die wir auf dem Weg gesehen haben.

2000 Kilometer mit einem schrottreifen Motorrad durch Vietnam zu reisen ist gefährlich. Gut, dass ich mich getraut habe. Gut, dass ich es hinter mir habe. Und gut, dass diese Geschichte für immer die meine ist.

 

Noch Fragen? Schreib mir an: er [at] ersieweltreise.de

 

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