SIE reist durch goldgelbe Reisfelder. ER durch diesige Staublandschaften. SIE: „Diese Farben, wunderschön, oder?“ ER: „Naja, so doll finde ich es jetzt nicht.“ Guckt zu IHR rüber und fügt hinzu: „Sally, nimm mal die Brille ab.“
In Hamburg hatte der Optiker mir vorgeschwärmt: „Diese Tönung wird sehr gern genommen, probieren Sie mal.“ Ich hielt mir das Sonnenbrillenglas vors Auge und sofort wurde die schnöde Einrichtung in ein weichgezeichnetes Licht getaucht. Ausgesprochen schön fand ich die 0/8/15-Filiale plötzlich.
Daran erinnere ich mich und schiebe mir die Sonnenbrille im Bus nach Lumbini von der Nase. Aus dem Goldgelb der Reisfelder wird ein tristes Graubeige. Die Frauen in knallbunten Saris, die auf den unendlichen Feldern den Reis ernten, verschwimmen zu einer matschigen Masse. Denn mit dem „Oh wie schön“-Effekt, habe ich mir auch meine Sehkraft genommen.
„So ist das also durch seine Augen zu sehen“, denke ich und schiebe mir mein Glück zurück auf die Nase.
Es ist nicht so, dass ER ein Nörgler ist, im Gegenteil. ER ist einer der begeisterungsfähigsten Menschen, die ich kenne. Aber diese Bus-Fahrt, die er später als „die schlimmste meines Lebens, ach nee, die 17 Stunden in Vietnam waren schlimmer“, bezeichnen wird, ist nichts für IHN – da hilft auch der Ausblick nicht. Aber dazu später.
Physisch passt ER einfach nicht in die Sitze, SEINE Knie quetscht ER auf den Gang. Dadurch bohrt sich aber ein Metallknubbel ins Fleisch – der Bus ist nicht fürs Quersitzen gebaut. Ein kleines Mädchen muss auf den Schoß ihres Bruders umziehen, damit ER überhaupt sitzen kann. Ich finde einen halben Sitzplatz in der letzten Reihe. Ein Mann reist mit seinen zwei Kleinkindern, aber das Mädchen entdecke ich erst nach der ersten Pause – so eingequetscht sitzt sie meinetwegen neben Opa und Bruder rechts von mir. Links sitzen zwei Männer, ihre schwarzen Haare tragen sie gegelt – denke ich zuerst. Doch Dank den scharfen Kurven und vielen Schlaglöchern merke ich, dass sie einfach ungewaschen sind und streng riechen. Trotzdem: Ich könnte das stundenlang tun, einfach dort sitzen.
Eingekeilt zwischen den Einheimischen ist sogar Festhalten überflüssig. Ich tue nichts. Einfach nichts.
Nach den Rafting-Tagen sind all unsere Akkus leer und so sitze ich einfach da. Kann meine Eindrücke nur in meinem Hirn abspeichern, nirgends notieren. Die am Fenster vorbeirauschenden Bilder. Für mich ist das wie im Kino sitzen. Es laufen unzählige Kurzfilme. Zwei Frauen in schönen Saris stehen auf dem Dach eines Betonbaus zusammen. Über was sie wohl reden?
Auf dem Markt sitzt ein Junge in seinem Obststand – einer Fahrradrikscha voll mit Bananen, Granatäpfeln und Limonen. Ob er davon überhaupt noch was essen mag?
Immer wieder diese unfertigen Häuser. Die Stahlträger ragen in den Himmel, die erste Etage ist mit unzähligen Bambusstöcken abgestützt. Wie das bloß hält?
Vorbei an roten Gladiolen-Feldern. Wie es sich wohl anfühlt, durch sie zu laufen?
Eine Frau sitzt vor ihrer Garage und stillt ihr Baby. Wie es sein Leben mal meistern wird?
Ein völlig verwachsener Baum steht am Straßenrand. Was der alles erzählen könnte?
Ein hagerer Mann repariert ein Fahrrad. Was er zu unseren Hightech-Rädern sagen würde?
Junge Männer hocken im Kreis zusammen und schrauben an ihrer großen Liebe rum. Wem von Ihnen gehört das aufgemotzte Motorrad?
Eine Frau treibt Wasserbüffel von der Straße. Ob sie sich schon mal zu Ihnen in den Schlamm gelegt hat?

In den fünf Stunden Busfahrt müssen wir insgesamt zweimal umsteigen. Im letzten Bus hat SIE nur einen Stehplatz – besser als ER, der ständig auf dieses Kind guckt. Die dunkel geschminkten Augen machen IHR Angst, außerdem ist irritierend, dass selbst Babys nicht über Grimassen lachen, sondern einen nur starr ansehen
Kinder stehen vor einer riesigen Bambus-Schaukel Schlange. Wie enttäuscht wären sie über die Mini-Schaukeln auf unseren Spielplätzen?
Vorbei an den Safari-Schildern von Chitwan. War das ein Tiger da hinten im Dschungel?
Um mich herum im Bus nehme ich nicht viel wahr. Ich habe inzwischen den Premium-Platz ergattert – ich sitze direkt am Fenster. Wie im Kino in der Loge sitzen, ohne dafür bezahlt zu haben. ER ist zu mir auf die Rückbank umgezogen. Zwischen uns sitzt ein Nepalese, der kleiner ist als ich – und schmaler sowieso. ER passt wie ich gut in die Sitze. Im Gegensatz zu IHM, deshalb hat er sich dankenswerterweise zwischen uns verkeilt, anstatt auf den Schleudersitz ganz hinten in der Mitte zu beharren. Auf dem sitzt ER. Nur soviel: Ein Schleuderrisiko besteht nicht.
Als der XXS-Mann weiter vorne einen ganzen Sitzplatz ergattert, kommt ein Mädchen zwischen uns. Selbstbewusst sitzt es da. Die Mutter verabschiedet sich mit der kleinen Schwester auf dem Arm nach vorne. Neben dem Fahrer ist was frei geworden. Die Kleine hält ihre Tüte Cracker in der linken und eine Plastikpistole in der rechten Hand. Sie ist vielleicht vier Jahre alt, aber hat keine Angst alleine zwischen uns Fremden. Erst gucken wir zusammen aus dem Fenster, dann schläft sie an IHN gelehnt ein. Als ich ihr die Cracker aus der Hand nehme, weil ihr alle aus der Tüte fallen, wacht sie auf und guckt mich streng an. Als ich sie wieder einsammele und ihr die Tüte geschlossen zurück in die Hand drücke, nickt sie kaum merklich und schlummert wieder weg. An einer Kreuzung schreckt sie auf und krabbelt über IHN zum Ausgang, wo ihre Mutter wartet.
SEINE Wangenknochen stehen hervor, ER verzieht schmerzverzerrt das Gesicht. SEINE Knie hat ER im Mittelgang verkeilt, das gibt blaue Flecken. Aber das Schlimmste ist, zischt ER zu mir rüber: „Ich bin zu groß, ich kann noch nicht mal nach draußen gucken, kann mich ja nicht ständig bücken!“ ER ist größer als die Fensterscheiben, das Innenleben ist sein Ausblick. Ich gucke ihn mitleidig an, hab aber keine Kino-Eintrittskarte für ihn parat und drehe mich zurück zum Fenster.
ER und SIE sitzen im gleichen Bus. Trotzdem werden das zwei völlig unterschiedliche Erinnerungen an die Fahrt nach Lumbini – auch ohne Super-Filter-Sonnenbrille. HIER das Video anschauen
4 comments for “SIE – Typisch ER und SIE! Diesmal: die (Alb-)Traum-Busfahrt nach Lumbini in Nepal”