Wir trennen uns nach 146 Tagen. Die Fähre legt in Lembar ab. SIE bleibt auf Lombok mit Anne. Ich muss nach Bali in die Klinik wegen einer verschleppten Mittelohrentzündung und eines kleinen Motorradunfalls.
Es ist kurz nach 10 Uhr morgens, als das Stahlkoloss vom Hafen ablegt. Ich sitze im obersten Stock, eine Handvoll Touristen sind dabei. Die Indonesier sind ein Stockwerk tiefer im klimatisierten Raum.
In ihrem Bauch transportiert die Fähre Hunderte Motorräder, mehrere Lkw, vollbepackt mir Erde, Zwiebeln, Kartons. Fünf Stunden soll die Überfahrt dauern. So lange waren SIE und ich noch nie getrennt. Seit 146 Tagen.
Links von mir zieht die Küste von Lombok langsam vorbei. Natürlich bewegen eigentlich wir uns, aber das bedächtige Schaukeln im ruhigen Wasser lässt mich an eine Kulisse denken, die vor der Reling abgespult wird.
SIE ist jetzt in Sekotong, an einem dieser Strände, die gerade an meiner Reling vorbeilaufen. Ich versuche, die kleinen Inseln zu zählen, damit ich später nachvollziehen kann, wo SIE denn wohl war in dem Moment, an dem der Entzug anfängt.
Ist SIE gerade in einem dieser Bungalows am Strand, die vor Häusern mit blauem Dach gebaut sind? Oder doch eher in einer der Hütten da hinten, versteckt hinter der vierten Insel? Ist da nicht das blaue Taxi, mit dem sie mich vorhin beim Hafen abgesetzt haben? Nein, Wunschdenken, sonst nichts.
Es ist wohl der Versuch, ein bisschen länger bei IHR zu sein, wenn ich nur wüsste, wo SIE gerade ist, jetzt in diesem einen kurzen verdammten Moment. Doch langsam verschwinden die möglichen Punkte, an denen SIE sein könnte. Die Fähre fährt unbeirrt Richtung Westen.
Die Reise dauert fast sechs Stunden. Kalter Entzug. In Shanghai hatten wir uns mal drei Stunden getrennt. Sonst haben wir alles geteilt. „Schau dir diese kleine Insel an, da stehen drei Bäume und eine Handy-Mast. Immerhin haben die Bäume Empfang.“ Zwei Amis befestigen eine Hängematte zwischen zwei weißen Metallpfeilern des Oberdecks. „Schau, das brauchen wir auch!“ „Und auf dem Klo! Eine Wassertonne mit braunem Wasser als Waschbecken! Schau, das Klo!“ Es sind Sätze, die nicht gesagt werden, die ein kleiner Gedankenkeim in meinem Gehirn bleiben. Kalter Entzug.
Am Hafen von Padangbai fährt doch kein Bus mehr. Ich muss die Fahrt mit dem Auto verhandeln. SIE hätte es besser gemacht. Ein Lächeln mehr, ein klares „that’s too much!“
Ich schaue aus dem Fenster des Jeeps, es ist 16 Uhr. Vielleicht ist SIE jetzt gerade am Strand oder beim Tauchzentrum, um ihre Tour für den nächsten Tag zu buchen. Oder kauft sie sich gerade eine Kleinigkeit zu essen? Es war so selbstverständlich, 146 Tage lang, rund um die Uhr immer zu wissen, was SIE gerade macht.
Die Straßen sind voll, ich bin um 18 Uhr im Hotel. Unfreundlicher Empfang, vielleicht bin ich es aber, der das ausstrahlt. Isst SIE gerade mit Anne einen frischen Fisch auf der Veranda ihres Bungalows, wie SIE es vorhatte? Oder ist, wie so oft, alles anders gekommen und es gibt Schnitzel, weil der Hotel-Inhaber Deutscher ist?
Im Hotel WLAN an, doch keine Mail. Ich schicke eine SMS per Internet „gut angekommen“, doch antworten kann SIE nicht. Hat SIE sie überhaupt gelesen?
In den Straßen von Kuta Horror-Tourismus, die Verschandelung einer Stadt und der Einwohner par Excellence, Bars, Happy Hour, ein Party-Ort für junge Australier. Und der Stadtteil, in dem die internationale Klinik liegt.
Abends sitze ich in einem Restaurant, gegenüber ein 19-Jähriger mit Muscle-Shirt, daneben stillose Mädchen, die billige Alkopops in sich reinkippen und so gekleidet sind, dass die Fantasie sich kaum anstrengen muss. Ein gefundenes Fressen für SIE im Lästermodus, eine der Situationen, bei denen wir uns so wunderbar gegenseitig hochpushen, bis einer von uns – oft SIE – mit Lachkrampf auf dem Tisch liegt.
Diesmal ist mir nicht mal nach einem lauen Lächeln. Kalter Entzug. Verdammter 146ter Tag.
7 comments for “ER – Kalter Entzug”