SIE – Meine Weihnachtsgeschichte in der Ferne

Diese Weihnachtsgeschichte beginnt an einer staubigen Kreuzung in Ruteng und endet unter Palmen in Maumere.

Es ist meine ganz persönliche Weihnachtsgeschichte. Fünf Tage vor dem Fest. Meinem ersten Fest in der Ferne. Weil ich Heimat brauche, weil ich mich nach den Traditionen zuhause sehne, sind wir für 300€ von Bali nach Flores geflogen. Seit den portugiesischen Kolonialherrschern ist die Insel christlich. Als wir in Labuan Bajo im Westen des Landes ankommen, hallt der Ruf eines Muezzins durch die Straßen. Flores‘ Osten ist überwiegend christlich, lerne ich.

Impressionen aus Lubuan Bajo

Impressionen aus Labuan Bajo

Wir befinden uns aber am westlichsten Zipfel der Insel. Das einzige bezahlbare Zimmer ist total versifft, die Laken befleckt, das Klo verdreckt und über den Flur läuft eine Ratte. Ich bin bedient. Für dieses touristische Moloch-Fischerdorf mit irgendwo einer Kirche haben wir so viel unseres Reisebudgets verballert?

Weil wir 40 Euro sparen wollten, haben wir nicht den Flug bis in die Hauptstadt der Blumeninsel (Flores) genommen. Sind nicht in den Osten der Insel geflogen. Falsche Entscheidung. Wir versuchen das Beste draus zu machen, ab zu den Komodo-Waranen und ich plane noch zu tauchen (ER kann nicht wegen Mittelohrentzündung und Unfall-Fuß), aber ich bekomme einen dicken Schnupfen. Auch mein Körper meldet: Streik!

Also entscheiden wir, doch in die Hauptstadt Ende zu fahren und uns den Rückflug zu gönnen.

Wir halten uns an die Lebensweisheit von Meike Winnemuth: „Love it. Chance it. Or leave it“ und reisen mit einem Local-Bus nach Ruteng, Richtung Osten, in den christlicheren Teil der Insel.

Beeindruckend: Das Spinnennetz-Reisfeld

Beeindruckend: Das Spinnennetz-Reisfeld

In der Kleinstadt zwischen den Bergen finden wir ein bezahlbares, gepflegtes Hotel, von katholischen Nonnen geführt. Die warme Dusche am Abend und das Einkuscheln in die weißen Laken kommen vom Wohlfühl-Faktor schon nah dran an die Weihnachtsstimmung. Doch meine Weihnachtsgeschichte beginnt erst am nächsten Morgen. Wir wollen uns die besonderen Reisfelder in Canca 17 Kilometer hinter Ruteng ansehen und spazieren zum Stadtzentrum. Überall winken uns Schulkinder zu, rufen „hello, where are you going?“ Wir merken schnell: Das heißt hier soviel wie „how are you?“

Zwei Studenten überholen uns auf den lockeren Gehwegplatten. Wir kommen ins Gespräch und an der nächsten Kreuzung stellen wir fest: Wir haben dasselbe Ziel. Johannes, 23, wohnt im Dorf direkt hinter den Reisfeldern. Sein Freund Andyk, 21, muss zwar eigentlich auf dem Markt in Ruteng seinem Bruder helfen, kommt aber mit, um mit uns zu reden. Er studiert Englisch und will Lehrer werden.

Zusammen sitzen wir im Bemo (Mini-Bus mit Sitzbänken) und reden. Darüber, dass sie für ihr Studium in einer Sand-Mine arbeiten müssen, darüber, dass sie als Kinder Angst vor den ersten Touristen ihres Lebens hatten und darüber, dass ich noch nie gesehen habe, wie Erdnüsse wachsen. Sie zeigen es uns.

Errdnuss-Bauer mit Sohn und Pflanze

Errdnuss-Bauer mit Sohn und Pflanze

Gleich neben der staubigen Kreuzung, an der wir aussteigen, kennen sie einen Erdnussbauern. Für 25 Kilo der Hülsenfrüchte aus der Erde bekommt er umgerechnet 3,30 Euro. Soviel zahlen wir für ein Kilo in Deutschland, sagen wir, und sie lachen. Seine Frau drückt Johannes zum Abschied eine schwarze Plastiktüte in die Hand. Da ahne ich noch nicht, dass sie uns gerade die besten Erdnüsse meines Lebens schenkt.

Wir schlendern, umringt von Kindern, bis zu Johannes Elternhaus und sitzen kurz zusammen, mit einer der fünf Schwestern und einem Bruder. Wir bewundern die gemalte Heilige Maria an der Wand und die prall gefüllten Reissäcke auf dem Boden. Eigene Ernte, sagt Johannes und führt uns zu den Reisfeldern, deren Anordnung von oben wie ein Spinnennetz aussieht. Auf dem Weg hoch geht’s vorbei an seinem Arbeitsplatz hinterm Haus. Ein gefährlich tief untergrabener Berg.

In dieser lebensgefährlichen Höhle schufftet Johannes

In dieser lebensgefährlichen Höhle schuftet Johannes

Täglich trauen Johannes und seine Brüder sich in diese Höhle, arbeiten sich mit Hammer und Meißel vor, bis die Massen von oben nachgeben. „Meistens passiert das nachts – in der Regenzeit“, versichert Johannes, als er unsere Gesichter sieht. Ich denke an das Foto seines Vaters, das er uns drinnen gezeigt hat. „Hehaspassedawaywhen I was inhighschool“, waren seine Worte. Ich traue mich nicht zu fragen, ob es hier passiert ist.

Oben auf dem Berg stehen wir staunend vor der Reisfeldern. Johannes erzählt, dass der Clan- Führer der Manggarai die Stücke dieser riesigen Reistorte aufteilt. Jede Familie bekommt eines. Angelehnt sei diese Architektur des Ackerbaus an den Bau der traditionellen Manggarai-Häuser mit den spitzen Dächern.

Wir wollen sie einladen als Dankeschön für die Spontan-Führung. Ja, ja, sagen sie. Aber erstmal Kaffee trinken zuhause. Als wir zurückkommen, riecht es nach gerösteten Erdnüssen. Sie schmecken wie nur Frisches in der Fremde schmecken kann. Ob das was Exotisches ist oder ein Schokostreusel-Toast in Kindheitstagen bei meiner Freundin Sesi auf der Küchenbank?

SIE mit Buch

SIE mit Buch

Wie ein Kind fühle ich mich im nächsten Augenblick auch. Johannes‘ Mutter kommt aus der Kirche zurück. Als wäre ich eine ihrer Töchter hält die fremde Frau mit den warmen Augen mein Gesicht zur Begrüßung in beiden Händen.

Immer wieder an diesem Nachmittag strahlt sie mich mit ihren kaputten Zähnen an, streicht mir über die Wange und holt mir einen Sarong Songke, als auf dem Wellblechdach der Tropenregen trommelt. Noch bevor mir kalt wird, hat sie an das wärmende Tuch gedacht. Ich denke an meine Mama.

Die Mutter

Die Mutter

Ich fühle mich geborgen – mitten in der Fremde. Dieses karge Steinhaus in diesem 1000-Einwohner-Dorf ist meine Herberge, mein kleines Bethlehem. Klar, sind wir nicht unterwegs, weil wir müssen. Uns zwingt keine Volkszählung. Wir reisen, weil wir Sehnsucht haben, weil wir unser Fernweh stillen wollen. Aber an Weihnachten ist das Bedürfnis nach Sich-Zuhause-Fühlen, das Heimweh besonders groß.

Da ist so ein Nachmittag zuhause bei Fremden das größte Geschenk.

Das Geschenk der Zuversicht, dass das Leben schön ist, die Welt ein guter Ort und die Menschen große Herzen haben.

Frohe Weihnachten aus der Ferne! 

Epilog

An dieser Stelle war meine Weihnachtsgeschichte zu Ende. Eigentlich. Ich sitze beim Schreiben im einzigen Internet-Restaurant im Ort. Speichern. Pommes bestellen. Mal kein Reis. ER und ich sind müde. Doch dann ploppt eine Whats-App Nachricht auf meinem Handy auf: Ob wir online sind, fragt unsere Freundin Jenny.

FotoPlötzlich sind wir Mitglied der Gruppe „Sally&Julien surprise“ und immer mehr unserer Freunde sind gleichzeitig online. Ein irres Gefühl! In diesem Moment sind all die lieben Menschen da, alle, die uns so fehlen. Ganz weit weg und und trotzdem zusammen. Meine Gedanken kommen nicht hinterher, während mein Daumen schon die neueste Nachricht öffnet: „Jenny: Wir haben für Euch ein Hotel über Weihnachten gebucht. Es wird zum Teil von Deutschen betrieben. Um sechs startet der Bus zum Gottesdienst. Danach gibt es ein Weihnachtsdinner mit Baum und Krippe.“

ER und ich starren uns an. Wir können nicht glauben, was wir da lesen. Die anderen Gäste im Restaurant gucken schon, weil ich so schluchze. Meine Tränen tropfen auf die Pommes. Immer mehr Nachrichten und Fotos von dem Ressort. Ich wische die Bilder ungläubig hoch und runter, als könnte mein Hirn so besser verstehen, was unsere Freunde da gemacht haben. Auf unserer verzweifelten Online-Suche nach Alternativen zum Weihnachten im Moloch-Fischerdorf in Labuan Bajo sind wir immer wieder auf dieser Hotel-Homepage gelandet.

Immer wieder habe ich diese Weihnachtsstimmung-Luxus-Strand-Bilder weggeklickt. Zu teuer. Vergiss es. Guck’s dir gar nicht erst an.

Jetzt kann ich mich nicht satt sehen. Ich liege im Bett ohne Lattenrost neben IHM – im Internet-Restaurant war schon vor eineinhalb Stunden Feierabend. Also liege ich im Homestay-Bett und lese mir im Offline-Modus immer wieder den Verlauf durch. Die Nachrichten, die Bilder. Immer wieder. Ich kann es noch nicht glauben. Gedankenkarussell. Mir kommt die Weihnachtspost von unserer treuen Leserin Ute in den Sinn. Frei zitiert: Die Gewissheit der Großartigkeit, das ist Weihnachten.

Mein Fest in der Ferne, mein Weihnachten 2014, wird das Fest der großartigen Freunde!

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