SIE – Krank in Peking 

IHR Arm im Bett

SIE liegt krank im Bett, genießt die weißen Laken und die Fremde Pekings vor dem Fenster

Draußen rotzt jemand auf den Boden, ein Motorrad knattert vorbei, ein Straßenhändler schreit. Der fremden Welt so nah und doch wird sie mir nicht vertrauter. Sie bleibt ein Rätsel, das ich nicht wie sonst mit all meinen Sinnen lösen kann. Die Geräusche und Gerüche gehen mit meiner Fantasie spazieren, aber ich liege im Hostelbett und schnäuze mich. Krank in Peking.

Warum hat eigentlich noch keiner das Buch „Krank in den schönsten Städten. Verrotzt, verschleimt und hustend um die Welt“ geschreiben? Sicher sehr interessante Gedanken und Eindrücke, die man da zusammenstellen könnte. Ich schreibe

Ein Peking-Pfirsich

Ein Peking-Pfirsich

MAN, nicht SIE. Denn ich habe nicht vor, nochmal irgendwo flach zu liegen und bin doch beeindruckt, wie intensiv ich die Fremde erlebe, obwohl ich mich nicht in ihr bewegen kann.

Das Essen, was ER mir so lieb ans Bett bringt, genieße ich, obwohl meine Nase ziemlich dicht ist. Vielleicht werden es daher die chinesischen Pfirsiche sein, die meiner Zunge in Erinnerung bleiben werden. Sie sind so fest und saftig gleichzeitig, dabei groß und schön anzufassen.

Die Mauer durch enien Bogen im Wachturm aus betrachtet

Die Mauer durch einen Bogen im Wachturm aus betrachtet

ER hat mich überredet, bei unser netten Couchsurferin auszuziehen. Und tatsächlich hätte ich mich bei dieser zurückhaltenenden Human-Genetikerin mit Doktortitel (ja, genau wie ich mir eine Chinesin so vorstellt hatte) nie den ganzen Tag auf die Couch gelümmelt. Ich wäre aufgestanden und hätte mich durch Peking geschleppt, wie an unserem ersten Tag durch die verbotene Stadt.

Wie der Fokus der Wahrnehmung auf Details scharf stellt, die sonst in den Tausend neuen Eindrücken des Tages verloren gehen würden: Jetzt ist also Schonen angesagt und ich werde

Gar nicht so einfach, die Mauer zu besteigen

ER nach 2000 Stufen hoch zur Mauer und unzähligen danach

den Moment, den Start in meine Schon-Zeit so schnell nicht vergessen. Wie ich in dieses Hostelzimmer kam und nach der Dusche in das frisch gemachte Bett gekrabbelt bin. Diese gestärkten Laken, dieses Weiß in Weiß. Diese Gefühl der Reinheit nach dem Smog-Tag in Chinas Hauptstadt. Diese Wonne des Gedanken: Hier fühle ich mich wohl, das gönne ich mir jetzt. Das Doppelzimmer kostet 25 Euro. Ein frisches Bett, zusammengelegte Handtücher und eine eigene Dusche und Toilette – was für ein Luxus. Ich liege in diesem Deluxe-Bett und denke an meine Schwester.

An den Brief, den sie mir zum Abschied geschrieben hat. Er macht mich traurig und glücklich gleichzeitig. Ein Jahr ohne sie. Schwer vorstellbar und eigentlich auch nicht das, was ich gerade empfinde. Unterwegs so weit weg benutze ich ihre Worte. Plötzlich ploppt ihr „Pass bloß auf“, „das ist ja pervers“, „nein, nein“ in meinem Wortschatz auf und ich freue mich. Weil es mich unverhofft an Erlebnisse erinnert, die wir teilen.

Auf der Mauer lauert SIE

Auf der Mauer lauert SIE

An ihre Worte „Gönnt euch auch mal was. Fünf Sterne plus, Sally“ denkend, habe ich das Hostel gebucht. Dieses einfach gepflegte Hostel ist gerade mein fünf Sterne plus.Meine Schwester sitzt in Gedanken auf meiner Bettkante. Und kurz auch virtuell. Sie und ihr Sohn. Ein Jahr ohne Carl. Das war eine der schwersten Entscheidungen, die mir die Weltreise abverlangt hat. Ihn durch den Skype-Bildschirm laufen zu sehen, dieses kleine Fenster in eine Welt, die ich so gerne mit ihm geteilt habe. Seine Antworten auf meine Fragen zu hören (er ist zwei und mag gerad gerne das Wort „Nein“), sind für mich das Größte. „Carl, warst du im Wildpark?“ „Nein!“. „Wie schön, bei euch scheint die Sonne, spielst du in der Sandkiste?“ „Nein.“ Mein Glück, dass die chinesische Zensur zwar Facebook sperrt und Google regelmäßig lahm legt, aber Skype funktionieren lässt.

Die chinesische Zensur, ich erlebe sie täglich, vielleicht viel intensiver, viel näher, als ich ihr unterwegs auf Pekings Straßen gekommen wäre. Denn: Ich suche nach Informationen.

Aufgewachsen im freien Land Deutschland, denke ich immer wieder: Ist das WLAN weg? Ich gucke nach und sehe: voller Empfang. Ich versuche es weiter. Per Yahoo kann ich nach mehreren Versuchen schließlich sogar freetibet.com finden – weil ich auf Englisch suchen kann. Tibet, weil es mich schon lange in dieses besetzte Gebiet zieht und ich mir diesen großen Wunsch so nah am Ziel nicht erfüllen kann, nicht erfüllen will.

In einem Reisebüro sagte uns die Dame mit China-Flagge als Armbinde, dass wir nur in einer Gruppe nach Tibet einreisen dürften. Ich will online nachsehen, ob es nicht doch einen anderen Weg gibt. Denn darauf hatte ich so gesetzt, so naiv das auch sein mag. „Diese Seite ist leider nicht verfügbar“ ist die Antwort – sogar bei der Yahoo-Suche. Ich versuche es nochmal, das Rädchen dreht sich, ich gucke aus dem Fenster. Draußen laufen Schulkinder vorbei, direkt unter meinem Fenster ist ein Restaurant, es sieht toll aus von oben, ob es gut riecht, kann ich aber noch nicht sagen. Meine Nase streikt weiter.

Nach zwei Stunden erreichen wir den 700 Jahre alten, nicht restaurierten Teil der Mauer

Nach zwei Stunden erreichen wir den 700 Jahre alten, nicht restaurierten Teil der Mauer

Es gibt keinen anderen Weg. Meinen Traum Tibet könnten wir nur für 1100 Dollar die Woche leben. Ein ganzes Monatsbudget für nur eine Woche, was nicht etwa die Tibeter, sondern direkt den chinesischen Aufpasser erreicht. Wir dürfen die Gruppe nicht verlassen, mit den Menschen dürfen wir nicht reden. Besucher im Gefängnis sein, so stelle ich mir Tourist in Tibet sein vor. Nein, ausgeschlossen. Vielleicht ist es in einigen Jahren anders. Hoffentlich. Nach der Weltreise noch ein Ziel zu haben, ist ein schöner Gedanke. Auch dieser lesenswerte Artikel hat mir geholfen, mich zu entscheiden. Weil er mir den Albtraum, den die Menschen in Tibet tagtäglich leben müssen, mit vielen Details und Bildern beschreibt. Traurig und doch befreiend, diese Entscheidung aus dem Hostelbett.

Der restaurierte Teil der Mauer

Der restaurierte Teil der Mauer

Nach zwei Tagen im Bett in Beijing dürstet es mich nicht nur nach Lüften, sondern auch nach Laufen. Mein Körper will raus, meine Fantasie hat die Stadt schon entdeckt, sie wird ungeduldig, nimmt mich an die Hand und zieht mich los. Steigen, Treppen steigen. 2000 insgesamt bis ER und ich oben auf der Chinesischen Mauer stehen. Atemberaubend eines der Sieben Weltwunder zu sehen und es zu erklimmen. Während ich die unzählichen, ausgetretenen Stufen aufsteige, denke ich lächelnd an Saikhnaa. Ich denke an die fröhliche Frau aus Ulaanbaatar, die uns spontan zu ihrer Familienfeier eingeladen hat. Vor einigen Tagen schrieb sie uns eine E-Mail: „Habt ihr schon die weiße Mauer gesehen? Die Mongolen sind drüber geklettert. Hehe. Ich wünsche eine gute Reise!“

Der Ausblick war schon Belohnung genug, trotzdem, geht es abends noch in das Restaurant, auf dass ich aus dem Hostel immer geguckt habe. Ein toller Laden, proppevoll, es ist laut. Die jungen Chinesen an den Tischen essen und rauchen gleichzeitig, alle haben große Metall-Eimer mit Spießen auf dem

ER probiert Hühnerfuß am Spieß

ER probiert Hühnerfuß am Spieß

Tisch stehen. Das ordern wir auch. Einmal das da, bitte. Wir zeigen auf die Tische der anderen Gäste. Das Ergebnis dieser Bestellung mit Händen und Füßen: Ein Eimer voll mit Fleischspießen. ER probiert Hühnerfüße, das ist mir zuviel.

Aber ich schnappe mir den Spieß mit Hühnerschnäbeln und nun ja, leider ist meine Nase wieder frei, alle meine Geschmacksknospen sind wieder an Bord.

 

 

 

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