SIE – Im Schlafzug nach Shanghai

Der Zug 701 von Peking nach Shanghai rattert über die Schienen, in Waggon 2 ist alles ruhig. Es ist drei Uhr nachts und fast alle der über 120 Menschen im Großraum-Abteil schlafen. In China wird gerotzt, geschubst und geschlürft, aber geschnarcht wird nicht – zumindest nicht in der dritten Klasse.

Denn hier sitzen alle – also alle, die sich noch einen Sitzplatz sichern konnten. Es gibt auch eine inoffizielle vierte Klasse: aber auch auf den mitgebrachten Mini-Hockern balancierend oder im Gang stehend ist an gemütliches Abschnorcheln nicht zu denken.

„Und du meinst, ich soll jetzt nur noch im Sitzen schlafen?“, ist SEINE Frage, als ich IHN anstupse und mich über diese Ruhe im ratternden Zug freue. ER passt physisch einfach nicht rein in diesen Sitzzug, an schlafen nicht zu denken. Immer, wenn ich aufwache, sehe ich einen andern Film übers Tablett flimmern.

ER sucht für mich nach der Wasserflasche unter uns, ER angelt meine Daunenjacke aus meinem großen Rucksack, ER deckt mich zu, wenn ich mich im Schlaf frei schauffel. Kurz: Die 1300 Kilometer lange Fahrt für 23 Euro zwischen voll beladenen Tagelöhnern und Rauchern, die sich die ganzen 13 Stunden lang vor den Klos zusammenrotten, ist für mich recht gemütlich.

Nur diese unvorhersehbaren Sauna-Allüren des Schlafzuges setzen mir zu – zumal nach meiner Erkältung in Peking. Heiß-kalt, extrem. Es ist, als würde der Zug durch schneebedeckte Berge fahren und kurz darauf durch Wüstenhitze. Die Klimaanlage spielt verrückt. Man weiß nie, was man bekommt. Beim Einschlafen habe ich mein T-Shirt an, ziehe die Daunenjacke aber vorsichtshalber schon über. Ich bin eben eher der „Lümmel-Typ“, hab es gern warm und kuschelig.

Aber schlafe nicht überall und ständig, wie dieses Foto vermuten lässt. Ich bin lange genug wach, um eine kleine Typologie der Schlafenden fertig zu stellen.

Der Klammeraffe

Foto 2 Ohne Gedöns kein Schlaf. Es kann ein Koffer, ein Rucksack oder auch eine Plastiktüte mit Proviant sein. Hauptsache: Der Klammeraffe hat was zum Festhalten. Dieser Typ Schlafende hat, egal wie alt er ist, ein Kuscheltier im heimischen Bett. Der Vorteil dieser Schlafart unterwegs: Der Klammeraffe hat die volle Kontrolle über sein Gepäck. Nachteil: Unschöne Schlaf-Abdrücke von Gurten und Reisverschlüssen im Gesicht.

Das KlappmesserFoto 5

Augen zu und zusammenklappen. Je nach Gelenkigkeit des Schlafenden und nach Grad der Müdigkeit kann der Kopf da schon mal auf den Knien landen. Vorteil: Platzsparend und angenehm diskret für Mitreisende. Nachteil: Nackenstarre.

Der Pfeiler

Foto 4Im Stehen schlafen ist kein Spruch, das geht. Auch im Wachzustand ist dieser Typ Schlafende selbstverliebt und risikofreudig. Bloß nicht mit der guten Kleidung auf den dreckigen Boden. Dafür zahlt der Pfeiler den Preis, dass ein unsanftes Abbremsen ihn aus dem Gleichgewicht und ins Taumeln bringen kann. Vorteil: Platzsparend und sieht gut aus. Nachteil: Umkippen kann sehr schmerzhaft sein und das Blut sammelt sich auf ganz unangenehme Weise in den Füßen.

Das Lineal lässt den Kopf in den Gang hängen

Das Lineal

Gerade wie ein Lineal liegt er da – gern über eine ganze Sitzreihe. Der Schlaf des Lineals hängt wie kein anderer vom Wohlwollen der Mitschlafenden ab. Wird es geweckt und gebeten, doch einen Platz frei zu machen, ist es vorbei mit der Nachtruhe. Denn das Lineal braucht die Horizontale, auch wenn der Kopf überhängt. Vorteil: Fast wie daheim ruhen. Nachteil: Asoziales Grundverhalten, das Lineal nimmt zwei anderen den Sitzschlafplatz weg (siehe: der Pfeiler).

Die Tischdecke

Kopf ablegen ist erste Schläfer-Pflicht. Als Kissen kann alles herhalten. Der eigene Ellenbogen, ein blanker Klapptisch. Für die Profis unter diesen Schlaftypen wurden diese aufblasbaren Nackenringe erfunden. Nicht den Nacken halten, sondern einfach Kopf drauf ablegen. Vorteil: Kann überall schlafen. Nachteil: Es kann etwas stickig werden.

 

DasFoto-6 Plumpsklo

Einfach hinhocken und einschlummern. Asiatischer kann man seine Nacht wohl nicht verbringen. Vorteil: Funktioniert tatsächlich überall. Nachteil: Nichts für Europäer mit starren Achillesfersen, auch für solche nicht, die sich rühmen es einige Minuten im Asia-Sitz auszuhalten. Einschlafen von sämtlichen Gliedmaßen!

Der Hocker-Hocker

IMG_20140918_221924Wie das Plumpsklo schläft der Hocker-Hocker im Sitzen ohne Sitzplatz, hat sich aber einen billigen China-Klappstuhl besorgt. Vorteil: In der Zugrangordnung eins über dem Plumpsklo. Nachteil: Der wackelige Hocker bricht oft schön während der ersten Fahrt zusammen.

 

Foto 4-1 Die Anne-Lene

Diese Art Schläfer dockt während des Schlummerns bei seinem Sitznachbar an, um sich zu schonen. Vorteil: Durch das auf der Schulter des anderen ablegen, bleibt der Nacken entspannt. Nachteil: Unschön für die Mitreisenden, besonders für den direkt betroffenen.

 

 

 

 

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