Immer ist die Rede von gefühlter Temperatur. Auf Weltreise merkt man die gefühlte Zeit.
Zu Hause fühlt sich eine Woche immer relativ gleich lang an. Fünf Tage arbeiten, morgens aufstehen, abends ins Bett, dazwischen acht oder zehn Stunden im Job. Ich weiß, was ich in einer Woche, an einem Tag, in einer Stunde erreichen kann.

Mist, welche Zeitzone ist jetzt die Richtige? In Zügen wird immer die Moskauer Zeit angegeben. Auch wenn man in Perm (+2), Novosibirsk (+3) oder am Baikal See (+5) ist. Das sind dann +7 Stunden Differenz zu Deutschland. Aber Peking hat dann nur noch +6, wir verlieren wieder eine Stunde, obwohl wir weiter nach Osten reisen. Logisch, oder?
Seit Beginn der Weltreise hat sich die Zeit verlagert. In Riga waren wir rund 20 Stunden, ein halber Touristen-Tag. Zuhause kaum mehr als eine Dreiviertel Umdrehung in der Alltags-Routine.
In meinem Gefühl war ich drei, vier Tage in Riga. Habe den Flughafen vor Augen, sehe, wie wir im Bus sitzen und die Altstadt, die Brücken bewundern. Ich fühle mich wie im TXL-Bus in Berlin, der zum Flughafen führt. Die Häuser zwischen Industrie, die Koffer der Touristen hinter mir, die Brücken über den Fluss wie über die Ringbahn der Hauptstadt. Ich weiß noch, wie steil die Treppe zum Hostel war, kann die Löcher in den Wänden vor meinem geistigen Blick zählen (es sind vier) und spüre das Gefühl, als SIE und ich zum ersten mal über die Pflastersteine taumeln.
Am nächsten Tag landen wir in Moskau, drei Tage in Zuhause-Zeitrechnung, fast ein Monat gefühlte Zeit. Der Zug vom Bahnhof ist rot, vor mir auf der Rückseite des Vordersitzes steht Werbung für eine Kreditkarte, das Logo der Bank ist blau. Am Bahnhof holt uns Julia ab, wir irren in gefühlter Zeit mehrere Stunden durch Moskau, bis wir mit der Metro an der richtigen Haltestelle sind. In den nächsten Tagen schlafe ich kaum, das Neue, das Schöne, das Hässliche, alles nimmt Zeit in Anspruch, sogar der Ausblick auf die anderen Plattenbauten aus dem Fenster, den ich rund zehn Mal fotografiert habe.
Nach dem gefühlten Monat mit unseren gefühlt neuen Freunden fahren wir nach Nizhny Novgorod. Vier Stunden an der immer lichter werdenden Stadt vorbei, dann an Datschas, an Wäldern.
In Nizhny verbringen wir ein Wochenende in Zuhause-Zeit. Ich bleibe gefühlt wieder einen Monat. Mit jedem Gang verbinden sich die unbekannten Straßen zu einem Netz von bekannten Wegen durch die Stadt. Ich weiß jetzt, drei Zuhause-Wochen später immer noch, welche Frisur die Ticket-Verkäuferin im ersten Bus hatte, den wir dort nahmen (kurz und grau). Weil es neu war, dass eine Ticket-Frau mitfährt, den ganzen Tag im Bus von einer Endhaltestelle zur anderen. Vorbei an den Sowiet-Bauten, den Kirchen mit den fremden goldenen Tulpen-Dächern, an der Szenerie von Nizhny Novgorod, das malerisch über zwei Flüsse ragt. Doch die Frau mit den kurzen grauen Haaren guckt nicht.
In Kazan sind wir nur eineinhalb Tage in der alten Zeitrechnung, doch eine ganze gefühlte Woche für mich. Morgens um 6.30 Uhr frühstücken wir im Kreml auf einer Bank vor einer weißen orthodoxen Kirche. Wurst, Brot, eine Banane. Wir sollen erst um 9 Uhr bei unserer Gastgeberin eintreffen. Gefühlt haben wir also den ganzen Tag Zeit. Mehrmals denke ich: „Mist, du musst mal wieder eine Mail nach Hause schreiben, hast dich ewig nicht gemeldet“ und sehe, dass ich das laut Handy vor ein paar Stunden gemacht habe.
Auch die Fotos zeigen die Verdichtung der Zeit, ich lichte alles ab, die Menschen, die Häuser, die Natur. Das ganz Normale, das damals neu war.
Und plötzlich beschleunigt sich die gefühlte Zeit. Doch das wird erst hinterher klar. Die Fahrkarten-Verkäuferin sitzt immer noch in jedem Bus, das ist normal, keine Ahnung, wie oft ich jetzt schon Tickets bei einer gekauft habe. Immer noch fahren die alten Ladas mit den platten Reifen über die kaputten Straßen. Ohne, dass ich es fotografiere. Ohne, dass ich es merke.
Ich erkenne die ersten russischen Wörter, muss nicht mehr alles einzeln lesen. Neben uns in der U-Bahn wird russisch gesprochen, das ist normal, nicht mehr der Rede wert. Schneller wird es auch im Reisen.
Zwischen Yekatarinburg und Novosibirsk sind es 20 Stunden in der Transsibirischen Eisenbahn, unfassbar viel, wenn man es auf dem Papier ließt. Rückblickend waren es ein Mal Schlafen, ein Mal Essen, ein Artikel für den Blog schreiben und kurz mit den Nachbarn sprechen.
Während ich diese Zeilen schreibe, sitze ich seit 22 Stunden in der Bahn zwischen Taiga und Irkutsk am Baikalsee, doch eigentlich sind wir gerade erst eingestiegen. In zehn Stunden sind wir da. Gerade mal Zeit für ein schnelles Nickerchen.
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