Am Horizont zeichnen sich die Berge und Vulkane des nicaraguanischen Festlandes ab. Vorne baden Kinder im See, Frauen waschen Kleidung auf Steinen, die aus dem Wasser ragen. Sie stehen knietief im Lagos des Nicaragua, dem größten Frischwasserreservoir des Landes, der 19. größte See der Welt. Das nasse Herz des Landes wird bald zu einer Wasserstraße für die größten Mega-Tanker der Welt verkommen.
Vor ein paar Wochen hat die Regierungen den Spatenstich zum Bau des Nicaragua-Kanals gesetzt. Ein riesen Projekt: Fünf Baujahre, 40 Milliarden Dollar Baukosten – und eine Firma aus Hongkong bekommt die Nutzungsrechte für 100 Jahre. Nicht wenige Kritiker vermuten hinter dem Wirtschaftskonglomerat eine direkte Einflussnahme Pekings, das auf Rohstoffe aus Lateinamerika aus ist und den Handel mit den USA intensivieren möchte.
Fünf Jahre vor Fertigstellung des Kanals sitzen wir auf der Isla de Ometepe mitten auf dem See. Sie ist aus zwei Vulkanen geformt, einer ist aktiv, einer zuletzt vor 3000 Jahren ausgebrochen. Am Strand im Dorf Mérida laufen Hunde, Kühe, Pferde, Schweine frei herum. Wir sind bei einer Familie untergekommen, sie haben drei Zimmer für Gäste direkt am Wasser. Wir sind die einzigen Touristen zur Zeit. Der Blick führt nach Süd-Westen, dort, wo bald der weltweite Schiffsverkehr an den Kleinbauern Nicaraguas vorbeiziehen wird.
Fünf Jahre noch
Jetzt ist Hängematten-Zeit. Buch-Zeit. Auch mal Zeit für nichts, den Blick über das Wasser schwelgen lassen. Ungetrübt, keine Tanker, nur ein intaktes Ökosystem, von dem die Fischer hier im zweitärmsten Land Lateinamerikas leben.
Durch die Ausgrabungen droht der See zu versalzen, eingeschleppte Tiere könnten einheimische Arten vertreiben, keiner weiß genau, was passiert. Noch gibt es keine Studie zu den Umweltfolgen. Aber der Panama-Kanal weiter südlich ist zu eng für die neuen Riesen-Tanker – auch wenn der gerade vergrößert wird. Dreiviertel der Einwohner sind für den Bau. Sie erhoffen sich Jobs, Geld, Aufstieg. Sie wohnen nicht am See, dessen Erscheinungsbild sich für immer verändern wird. Ramon, 25, schon: „Es ist wirtschaftlich vielleicht sinnvoll. Aber es wird den See zerstören.“ Seine Hütte liegt knapp über dem Wasserstand. „Hoffentlich steigt das Wasser nicht mehr als einen Meter…“
Es ist also das letzte Mal, dass ich diesen See so sehe. Wenn ich darüber nachdenke, in meiner Hängematte, beim Nichtstun, ist es schon komisch, wie oft wir auf dieser Reise etwas zum letzten Mal gemacht haben. Wir sind zum letzten Mal in Myanmar gewesen, bevor der aufkommende Massen-Tourismus die Menschen verändert. Zum letzten Mal auf Bali – das tue ich mir nicht nochmal an. Zum letzten Mal wohl in diesen unzähligen kleinen Orten, in denen wir übernachten, den Bus oder Zug wechseln mussten. Unsere Reise – und deshalb ist sie so besonders, so wertvoll – ist nicht wiederholbar.
Gleichzeitig denke ich: Diese ganzen letzten Male – sie waren in Wirklichkeit erste Male. Eine monatelange Aneinanderreihung an fantastischen und traurigen, beängstigenden und berauschenden, ekstatischen und lähmenden ersten Malen, die eine Antwort geben auf unsere vielen Was-wäre-wenn-Fragen. Und uns So-war-es-als-Erinnerungen geben.
In fünf oder mehr Jahren, wenn der Kanal gebaut ist und die ersten Bilder der Tanker über die Fernseher laufen werden, dann werde ich eine solche Erinnerung haben. So war es, als der Nicaragua See einfach nur See war. Und so war es, auf Ometepe am Fuße zweier Vulkane aufs Wasser zu staren, zu träumen. So war es, und so war es schön.
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