ER – Teilen in China

Es ist kurz nach 23 Uhr oder kurz vor Zwölf, da hört das Teilen auf. Wir überschreiten die Grenzen aus der Mongolei nach China, 1,3 Milliarden Menschen, das größte kommunistische Land der Welt.

Ungeteilter Patriotismus: Kind, Fahne, Mao

Ungeteilter Patriotismus: Kind, Fahne, Mao

Und plötzlich ist Facebook blockiert, wir können keine Beiträge, Fotos oder Eindrücke mehr teilen. Die große chinesische Firewall blockiert eine Milliarde Nutzer.

Wie schwer mir das fällt, wie abhängig wir uns machen von einem einzigen Unternehmen in Palo Alto im Silicon Valley. Was war noch die Mail-Adresse von dem und dem? Hat nicht bald ein Freund Geburtstag?

Geteiltes Frühstück - SIE krank im Bett

Geteiltes Frühstück – SIE krank im Bett

Es gibt Programme, um die Sperre zu umgehen, doch wir brauchen eine Woche, damit es funktioniert. „Mit der Firewall Chinas ist es wie mit einem großen, umzäunten Park“, erklärt uns unsere erste Couchsurgerin Yaming. „Die meisten bleiben drin, doch diejenigen, die rauswollen, dürfen über den Zaun klettern.“

Im Zug von der Mongolei nach China fängt SIE sich eine Erklärung ein, irgendein Mitreisender muss die Viren verteilt haben. Nach zwei Nächten bei Yaming ziehen wir um. SIE muss sich schonen.

Einen ganzen Tag verbringt sie im Doppelzimmer, kuriert sich aus. Den Luxus, ein eigenes Bad zu haben, das man sich mit niemanden teilen muss, bemerken wir erst, weil wir ihn lange nicht hatten.

Die Stadt hingegen teile ich mir mit über 22 Millionen Menschen, doch an diesem Tag bin ich allein, ohne SIE. Während SIE sich gesund schläft, besuche ich den Lama-Tempel, den größten Ort buddhistischen Kults in Beijing.

Ungeteilter Moment: Frau betete die Reinigungskraft an

Ungeteilter Moment: Frau betete die Reinigungskraft an

Drinnen goldene Buddhas, angebetet von Chinesen mit Räucherstäbchen in der Hand. Hinten eine 25 Meter hohe Buddha-Statue aus einem einzigen, ungeteilten Holzstück geschnitzt, das bestätigt sogar ein trostloses Schild des „Guiness Book auf World Records“. Dass sie so ein entweihendes Schild nötig haben. Ich möchte das sagen, doch ich kann es nicht mit IHR teilen.

Gegenüber betet eine Frau, vor ihr macht eine Reinigungskraft sauber, fegt direkt vor deren Gesicht, doch das merkt die Betende nicht. Ein Bild voll Symbolkraft. Doch wäre es nicht noch stärker, hätte ich den Moment teilen können?

Von der Frau habe ich ein Foto, ok. Doch viele Momente haben SIE und ich aber erlebt, einfach so. Gehirn-Fotos. Wir werden uns in Jahren noch die inneren Bilder zuwerfen. „Weißt du noch?“-Momente.

Zum Teil verdeckt: die Sonne hinter Smog in Beijing

Zum Teil verdeckt: die Sonne hinter Smog in Beijing

Weißt du noch, wie in Nischny Novgorod der Freund unseres Gastgebers Micha sich im Tram-Museum eine Lenin-Statue vom Regal greift, sie umdreht und einfach gegen klopft?

Weißt du noch, wie du in diesem kleinen Haus in der Gobi Wüste nach dem Riesen-Schluck Wodka dem Brautpaar fast ins Wohnzimmer gekotzt hättest?

Weißt du noch, wie wir am Baikalsee drei Nächte in einer Strandmuschel einfach am Strand übernachtet haben?

Der neue Teil Shanghais: Pudong

Der neue Teil Shanghais: Pudong

Weißt du noch, wie du in der chinesischen Botschaft in Ulaanbaatar standest, während ich die Visums-Gebühren in der Bank gegenüber zahlen musste? Dass das fast zwei Stunden gedauert hat, ich mich in der Bank vordrängeln musste und um zwei Minuten vor Zwölf laut gegen die Tür gehämmert habe, damit wir unsere Pässe wieder bekamen?

Der alte Teil: der "Bund"

Der alte Teil: der „Bund“

Weißt du noch, wie wir vor dem Nachtzug von Beijing nach Shanghai standen, diese Menschenmenge vor uns sahen? Weißt du noch, die Verkäufer, wie sie billige Klapphocker verkauften und wir uns gefragt haben, wofür man die wohl braucht. Wie wir sahen, dass drinnen im Zug die Menschen rauchen und ein dicker Glatzkopf einfach auf den Waggonboden spuckt? Wie, als wir endlich drin waren, drei Reihen voneinander entfernt sitzen, die Rucksäcke irgendwie unter die Sitze gequetscht, ich genauso zwischen Mitreisendem und Fenster. Und wie diese junge Frau mit uns Plätze tauschte, damit wir zusammen sitzen konnten? Und weißt du noch, dass wir das mit den Hockern ganz schnell verstanden haben?

Geschlafen habe ich keine zwei Stunden. Position Tischdecke.

Zum Teil Gutenberg: ER mit Page

Zum Teil Gutenberg: ER mit Page

Dreizehn Stunden später sind wir da, Shanghai empfängt uns mit Hamburg-Wetter, es regnet, eine steife Brise schlägt uns entgegen. Auf der einen Seite der „Bund“, diese Uferpromenade am Fluss mit europäischen Bauten aus der Kolonialzeit. Auf der anderen die Hochhäuser, der Fernsehturm in übertriebener Molekularform, kitschig violett beleuchtet. Die zwei Architekturstile trennen nur Hundert Jahre und der Fluss Huangpu. Dann die Französiche Konzession, den Teil Shanghais, den sie Paris des Ostens nannten. Alleen, kleine Häuser, Platanen.

Am ersten Abend treffen wir Page. Unsere erste Couchsurferin Ya hatte den Kontakt hergestellt. Die 20-Jährige zeigt uns die Stadt – dann teilt sie uns mit: Ihr Kumpel Jun kommt mit zum Essen. Und: Er nimmt uns übers Wochenende auf, kein Problem. 

Treppen teilen auf dem Weg in die U-Bahn: Jun und SIE

Rolltreppe teilen auf dem Weg in die U-Bahn: Jun und SIE

Das Essen in China ist freundschaftlich: Man bestellt viel, es wird in die Mitte gelegt und geteilt. Gewöhnungsbedürftig ist dagegen, dass jeder Knochen, Knorpel einfach auf den Tisch gelegt wird. Oder gespuckt.

Jun, 24, Bankangestellter in der Probezeit, teilt sich seine Wohnung mit einem Kollegen – und jetzt mit uns, zwei ehemalige Gastgeber einer Freundin einer Freundin von ihm. Er nennt es die Kette der Freundschaften. Er überlässt uns sein Bett, er schläft im Schlafzimmer seines Mitbewohners.

Ein Großteil der Eltern hier sind verzweifelt: Sie suchen einen Ehepartner für ihr Kind

Ein Großteil der Eltern hier sind verzweifelt: Sie suchen einen Ehepartner für ihr Kind

Am Sonntag lande ich auf dem Weg ins Shanghai Museum zufällig auf so einem Markt. Die Menschen drängen sich wie auf dem Rummel. An den Seiten sitzen, hocken und stehen Männer und Frauen, meist 50 Plus, vor aufgeklappten Regenschirmen. Auf den Schirmen stehen die Eckdaten ihrer Ware: Jahrgang 1982, 1,67 Meter, 10000 Yuan Einkommen im Monat. Es ist ein Heiratsmarkt. Verzweifelte Eltern bieten ihre Söhne und Töchter an. Die Kinder wissen oftmals nichts davon, meistens hängt nicht mal ein Foto dran. Warum auch, in China zählen ganz andere Anziehungspunkte.

Tausend Erinnerungen können wir jetzt schon teilen: ER und SIE vor dem ältesten Teehaus Shanghais

Tausend Erinnerungen können wir jetzt schon teilen: ER und SIE vor dem ältesten Teehaus Shanghais

In Beijing erzählte Yaming, dass es kaum Kneipen gibt, die Leute wenig ausgehen. Wie lernen sie sich dann kennen, will ich wissen. „Es gibt viele Blind-Dates in China. Die Eltern oder Kollegen arrangieren ein Treffen.“ Wichtig sei das Geld, eine eigene Wohnung in Beijing und der Heiratsdeal sei fast perfekt. In Shanghai diskutieren die Eltern angeregt, verhandeln die Konditionen der Treffen. Es wird gehandelt wie auf dem Markt, wo wenn die Handtasche oder die Kleidung ein paar Yuan zu teuer ist. Wie weit entfernt wir jetzt schon sind, nicht nur geografisch.

In Shanghai sind wir am östlichsten Punkt unserer bisherigen Reise angekommen. Es sind erst zwei Monate vergangen, doch sie werden mich prägen für den Rest meines Lebens.

Diese Reise ist jetzt schon ein Teil von mir.

 

 

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