SIE – Antigua: Reise in die Vergangenheit

Der Wecker klingelt um kurz vor Sieben. Nach dem Frühstück geht’s in die Schule. Nachmittags Hausaufgaben. Es ist ein Leben wie mit 14.

Alltag auf Weltreise

Unsere Gasteltern: Marlis und Francesco

Unsere Gasteltern: Marlis und Francesco

Unser Sprachkurs in Antigua, Guatemala, ist für mich wie eine Reise in die Vergangenheit. Nur, dass ich heute eine andere bin. Nicht mehr mittendrin in der Pubertät. Wenn ich zum Mittagessen in die Gastfamilie gehe, sage ich freudig Sätze wie „que huele buen!“ Übersetzt: „Es riecht gut!“ – anstatt nörgelig: „Oh man, darauf hab ich keinen Hunger, Papa!“.

Es steht nicht mein Vater am Herd und fragt, wie es in der Schule war, sondern unsere Gastmutter Marlis. „Tienes hambre?“ Hast du Hunger? Und wie!

Die strenge Lehrerin Aurora und SIE

Die strenge Lehrerin Aurora und SIE

Das Lernen frisst mir ein Loch in den Bauch. Von 8 bis 12 Uhr Gehirnjogging und mein Magen ist leer. Mein Kopf dafür voll. Nach zwei Wochen Sprachschule mit unserer Hart-aber-herzlich-Maestra Aurora schwirren mir Verben und Vokabeln durch den Kopf. So muss sich mein Neffe Carl fühlen. Er kann schon Drei-Wort-Sätze. Aber oft fehlen ihm sicher die Worte, um genau das auszudrücken, was er meint.

Francesco und seine Kitsch-Krippe

Francesco und seine Kitsch-Krippe

Talita (7), die kleine Tochter der Familie, ist da weiter. Sie geht in die erste Klasse. Am ersten Tag zeigt sie uns stolz ihren neuen Prinzessinnen-Rucksack, hüpft in ihrer Schuluniformen durch die Küche und bittet ihre Oma um einen Teller Nachos.

In einer Großfamilie mitlaufen ist wie Eintauchen in die Kultur des Landes. Opa Francesco (71) bringt morgens den schüchternen Enkel Jose-Rotrigo (6) in die Vorschule.

Dessen Tante Ana (39) ist derweil unterwegs mit ihrer Tochter Talita – in die Grundschule Antiguas. Oma Marlis (70) steht immer am Herd – morgens, mittags, abends. Sie kocht alles selbst – auch die Nationalbeilage Guatemalas: Frijoles, eine vorzügliche Bohnencreme, massig und mundfüllend. „In Mexiko sind die Bohnen rot, unsere sind schwarz“, erklärt uns Francesco eines Abends.

 

Wenn ich ihn ansehe, kann ich nicht anders, als an meinen Opa zu denken. Opa Willi, wie ich ihn immer genannte habe, hat gerne die Geschichte erzählt, wie er mit Rollschuhen zum Kommunionsunterricht in die Kirche fuhr und danach nicht mehr zu kommen brauchte. Mit seinen warmen Augen, dem vom Leben erzählenden Gesicht und dem Kugelbauch erinnert Francesco mich an meinen lieben Opa, der eines sicher nicht teilte mit meinem Gast-Opa. Den Glauben an Gott.

Erinnerungsfotos an die Gäste aus aller Welt und Familienfotos

Erinnerungsfotos an die Gäste aus aller Welt und Familienfotos

Franciscos Augen ruhen immer auf dem, der gerade das Tischgebet vorliest. Wohlwollend nickt er bei jedem noch so falsch ausgesprochenem Wort. „Amen.“ Die Guatemalteken glauben, sind katholisch, da ist unsere Gastfamilie keine Ausnahme. Überall hängen Kreuze und in jedem zweiten Satz kommt Gott vor: „Gracias a dios.“

Im Wohnzimmer steht eine überdimensionale Krippe mit Neonbeleuchtung und Weihnachtsmusikgedudel. Francescos ganzer Stolz. Bis zum 2. Februar („Maria Reinigung“) steht sie eigentlich dort, erklärt er – das verstehe ich zumindest und nicke. Weil sich die Enkeltochter die Krippe aber bis zum Geburtstag vier Tage später wünscht, dudelt sie weiter beruhigend besinnlich vor sich hin.

Beruhigend ist auch das Miteinander der Großfamilie. Talita lebt mit ihren Eltern, Ana und ihrem Mann Carlos, in einem Zimmer. Die Großeltern hinter einer Tür im Wohnzimmer.

ER und SIE mit Aurora

ER und SIE mit Aurora

Für die Sprachschüler haben sie drei Acht-Quadratmeter-Zimmer hinterm Garten aus Beton geräumt. Auf dem grauen Grund stehen unzählige Töpfe mit blühenden Blumen. Die Sprachschüler teilen sich das eine Bad, die Großfamilie das andere.

Weit verreist sind Marlis und Francesco noch nie. Zumindest nicht in diese exotisch fernen Länder wie Israel, Japan, Australien, Indien, Österreich, Deutschland, Korea, Polen, Schottland. In Ländern, in denen es Schnee gibt. In die Länder ihrer Besucher. 365 Tage im Jahr haben sie Fremde im Haus.

Zwei Frauen in Antigua

Zwei Frauen in Antigua

„Wir bereisen nicht die Welt, die Welt kommt zu uns.“ So sieht das Francesco. Probleme hatten sie noch nie mit den Dauergästen. Nur einmal sei es schwierig gewesen mit einem vegetarischen Inder, erzählt Marlis und lacht ihr warmes Lachen.

Sie ist eine grandiose Köchin, überrascht uns immer wieder mit fantastischem Fleisch mit Soßen, neuen Gemüsesorten und Suppen. Dem Inder waren die Fleischbeilagen zu eintönig, der habe sich bei der Sprachschule beschwert.

Marlis zuckt mit den Schultern, streicht die Schürze glatt und lächelt. „Quieres más?,“ fragt sie und füllt die Teller nach. Mit uns zu Gast sind ein Engländer und ein Franzose. Am Tisch ist Spanisch Amtssprache, auch wenn wir manchmal ins Englische abdriften.

Auf jeden neuen Gast stellt sich die Familie ein, fragt nach den Sitten in dessen Heimatland und schwärmt über ihre Heimat: Antigua.

Oder über Besucher, die ihnen ans Herz gewachsen sind. Erinnerungsfotos hängen neben dem Kühlschrank.
Eine Sprachschülerin aus der Schweiz lebte sechs Monate mit der Familie! Wie viele Menschen sie auf Zeit zur Familie gezählt haben, wissen sie nicht. Seit sechs Jahren verdienen sie so ihr Geld. Viel ist es nicht. Laut Sprachschule gibt es rund 10 Dollar pro Gast pro Tag – für Komplettverpflegung und Übernachtung.

Was man nachmittags so macht: ER kauft eine Avocado

Was man nachmittags so macht: ER kauft eine Avocado

Vorher hat Francesco 30 Jahre bei Nestlé gearbeitet. Hat Hühnchen für Tütensuppen zerlegt. Seither hat er Guatemalas Lieblingsfleisch satt. Wischt mit einem Tortilla die letzte Bohnencreme vom Teller und grinst.

„Seit 42 Jahren sind wir verheiratet und seit dem arbeite ich eh für sie“, sagt er, stellt seinen Teller brav in der Spüle ab und nickt in Marlis Richtung. Da ist er wieder mein Opa Willi mit dem schelmischen Blick. Schön, so zu reisen. Um die Welt und in die Vergangenheit.

 

 

 

 

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