Platz 21, Zug Nummer 56, in der Transsib von Jekaterinburg nach Novosibirk, 20 Stunden. Es ist kurz nach acht Uhr morgens. ER schläft über mir, Platz 22 (ja, auch ER tut das).
Ich gucke aus dem Fenster: Birken. In allen Variationen. Kräftige Stämme, dunkelgrüne Blätter. Schwarzweiße Stumpen, die in den Himmel ragen wie Skulpturen. Besonders oft stehen aber hagere Stämmchen zusammen in einer Gruppe wie Fünftklässler auf dem Schulhof. Ihre Blätter sind zart, hell, saftig. Gibt es im Russischen eigentlich das Adjektiv birkengrün?
Badewannen voll Birkensamen. Die Vorstellung, darin unterzutauchen, macht mir Freude. Wäre sicher auch was zur Desensibilisierung für Heuschnupfen-Opfer. Wie viele kleine Birkenbäume in dieser Semi-Taiga wohl Opfer der sibirischen Kälte (-30 Grad) werden? Sowieso sehen die Bäume aus, als würden sie in anderen Jahreszeit leben, stehen aber direkt nebeneinander? Saftig grün, herbstgelb, blank.
Birken, warum muss ich bei diesen Bäumen immer an KZs denken? In dieser Idylle wurde 1943 das Straflager Perm 36 errichtet. Die Bäume wurden gefällt, damit die Gefangenen nicht erkannten, wo sie waren.
Wie gerne hätte ich das ehemalige Lager besucht, aber es wird gerade „erneuert“, wie es Putins Propagandamaschine formuliert. Erinnerungen an das Gräueltaten des Systems sind nicht erwünscht.
Meine Augen vertiefen sich ins Unterholz und da kommt eine Erinnerung hoch. Gegenüber von meinem Kindergarten gab es dieses kleine Wäldchen, ein Birkenwald. Mein Lieblingsbaum war eine mit besonders tief gewachsenem Ast, genau richtig in der Höhe, um darauf Pferd zu spielen. Ich werde sie besuchen, wenn ich zurück bin. Werde ihr erzählen von ihren vielen russischen Verwandten.
Manchmal muss man weit reisen, damit die schönsten Zuhause-Erinnerungen zurückkommen.
7 comments for “SIE – Birken bis zum Horizont”