Ich kann nicht alles beschreiben. Aber es gibt Sätze, die bleiben.
Micha: „Wie viel Geld habt ihr – für die Weltreise?“
0 Bewertungen, 0 Besucher, aber seit 2012 angemeldet bei Couchsurfing.org. Kurz vor unserer Ankunft in Nizhny Novgorod gucke ich mir noch das Profil von Igor und seiner Frau Angela an und stocke. Warum hatte er noch nie einen Besucher? Wer und was wird uns erwarten? Bei der Abfahrt aus Moskau haben wir nach unserer tollen Couchsurfing-Hosterin Julia noch Scherze darüber gemacht, ob wir wohl mal fliehen müssen.
Als ich die zwei kurzhaarigen Russen am Gleis sehe, die direkt auf uns zusteuern, kreist der Flucht-Gedanke durch meinen Kopf. Als ich in den Proll-BMW steige, der Fahrer mit 90 km/h durch die Stadt ballert und seine erste Frage ist: „Wie viel Geld habt ihr – für die Weltreise?“, denke ich ernsthaft darüber nach, den Gedanken in die Tat umzusetzen.
Übrigens – das dachte ER in derselben Situation: „Auf dem Parkplatz steuern wir auf einen weinroten 25 Jahre alten Lada zu, Marke Rost-Hält-Ihn-Zusammen. Doch daneben blinkt ein blankpolierter BMW X1 auf. Der bayrische Kompakt-SUV ist sein Auto. Geil!“
Aber zurück zu meinen Gedanken: Nach der Angst-Fahrt hält der Typ vor einem hässlichen Sowjet-Block, in dessen Flur der Putz bröckelt und die Kabel aus den Wänden ragen. Jetzt zweifele ich ernsthaft an meinem Grundvertrauen. Ich stolpere die abgenutzten Stufen hinauf in den fünften Stock und will IHM schon Zeichen machen, da überwältigt mich der Geruch von frisch gekochtem Essen. Igors Frau Angela (34, kurze Haare, warme Augen) fragt: „Coffee, Tea?“ Sie spricht kein Englisch, ich kein Russisch. Ich nicke, also bekomme ich Tee. Das Essen sei gleich fertig. Der verrückte Fahrer stellt sich als Micha (ausgesprochen: Miiischa) raus (32, Vater von zwei Kindern, aber selbst noch eins). Von Smalltalk hält er offenbar nix. Seine zweite Frage, die Igor (36) übersetzen muss: „What do you think about the Ukraine?“ Dass wir nicht antworten sollen, es sei so eine typische Micha-Frage, fügt Igor noch hinzu. Politische Themen sind erstmal tabu, hatten ER und ich abgesprochen, also wechseln wir das Thema. Wir sitzen am kleinen Esstisch und ich schäme mich für meine Gedanken. Diese Menschen sind von so einer überwältigenden Herzlichkeit, dass ich schlucken muss. Sie wollen uns in Russland das Gefühl geben, zuhause zu sein. Wollen uns ihre Stadt zeigen. Es gibt Reis mit Fleisch-Stückchen. Mit jedem Bissen wächst in mir das Wohlbefinden. Ok, ich hatte auch Hunger. Aber ich hätte mir noch vor 20 Minuten nicht vorstellen können, dass ich mich in diesem Haus tatsächlich wohlfühlen würde.„Willst du die Medaillen meines Großvaters sehen?“
„Willst du die Medaillen meines Großvaters sehen?“, höre ich Igor im Wohnzimmer fragen, als ich mir gerade meine Schlafsachen anziehe. ER sagt; „Ja!“ Als ich dazukomme, knotet Igor gerade eine Plastiktüte auf. Darin die Metallstücke, die den abstrakten Krieg für mich so greifbar machen.
Ich streiche über das Exemplar, das Igors Opa für den Sieg über Deutschland bekommen hat. Igor erzählt, dass Russland den 9. Mai als Tag des Sieges über die Nazis feiert – nicht den 8. Mai, wegen der Zeitverschiebung. Dann sagt er, dass für viele Russen und auch für ihn diese Kriegsgeräte im Kremlin in Nizhny Novgorod mehr als nur Symbole sind. „Sie bedeuten mir was.“ Dieser Satz lässt mich nicht los. Er bringt die Unterschiede auf den Punkt. Igor hat selbst in Tschetschenien gekämpft, auch diese Medaillen zeigt er uns.
Ein Krieg, den ich nur aus dem Fernsehen kenne und den der Westen immer scharf verurteilt hat. Gleichzeitig hat er viele Bekannte in der Opposition. Wenn es um sein Heimatland Russland geht, sagt er Sätze wie: „Das ist Propaganda, ups, habe ich das gerade gesagt?“, „Unser Staat betrügt uns immer wieder“ und „Es gibt keinen unabhängigen TV-Sender, dafür habe ich meine 1300 Facebook-Freunde“.
Ich habe Krieg nie erlebt, ich darf wählen gehen und ich kann reisen wohin ich mag. Was für ein Luxus das ist, habe ich selten so klar empfunden, wie da im Schlafzeug auf der Couch hockend.
„Ihr werdet in diesem Jahr noch in genug unbequemen Betten schlafen.“
Ich liege im Ehebett von Igor und Angela, während sie selbst auf der Couch schlafen. Die Diskussion ist zwecklos.
Angela hat all unsere Argumente mit diesem einem Satz abgewehrt, den Igor stolz übersetzt: „Ihr werdet in diesem Jahr noch in genug unbequemen Betten schlafen.“ Ich liege also da und atme frische Bettwäsche. Ich liebe diesen Geruch und ich liebe dieses Gefühl der Gastfreundschaft. Couchsurfing, schon klar, auf der Couch eines Fremden schlafen dürfen. Dass ich aber aus dem Zug mittendrin im Zuhause dieser Fremden lande, sie mich mitnehmen in ihr Leben in den kommenden zwei Tagen, das hatte ich nicht erwartet.
„Am besten, du bleibst auf dieser Straßenseite“
Igor zeigt uns seine Stadt. Und wie! Der PR-Direktor einer Hochschule in Nizhny Novgorod hat uns den Besichtigungsplan sogar vorab zugeschickt. Freilichtmuseum, Spielzeugmuseum aus der Sowjet-Zeit, Tram-Museum mit exklusiver Führung. Als wir durch die Fußgängerzone flanieren, spricht uns ein Demonstrant an. ER fragt, wofür, ob das überhaupt erlaubt sei.

Der Mann mit der Alkohol-Fahne und der russischen im Kopf unterstützt die Separatisten in der Ukraine.
Igors Antwort: „Er sammelt Geld für die Separatisten, er ist gegen Kiew, deshalb ja!“ Später gehen wir an einem eingezäunten Bau vorbei. Igor: „Das ist das ehemalige KGB-Gebäude, es ist nicht verboten, es zu fotografieren, aber auch nicht erlaubt. Am besten, du bleibst auf dieser Straßenseite.
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