SIE – Was mich ein Skater über den Stalin-Terror lehrte

Kirill in der Gefängniszelle

Die kyrillischen Schriftzeichen unter den Bildern geben mir keine Antworten. Ich stehe in den Kellerräumen des NKVD-Museums in Tomsk und habe so viele Fragen. Warum sind diese Menschen hier gelandet? Was mussten sie ertragen? Wie geht ihre Geschichte?

Kirill geht durch die ehemaligen Zellen als wären sie seine Halfpipe. Der 25-Jährige sieht aus wie ein Skaterjunge aus den Neunzigern. Baggypants, Silberkette mit Anhänger und zum Igel gegelte Haare. Doch sein Auftritt nimmt diesem Ort nicht das Grauen, im Gegenteil.

Der Englisch-Guide erzählt, dass seine Familie unter dem Terrorregime gelitten hat. Es ist der Grund, warum der gelernte Tontechniker Ausländern wie mir die Geschichte seine Landes erklärt. Für ihn ist das mehr als ein Job. Es ist das Versprechen, seine Vorfahren nicht zu vergessen und mit ihnen die tausende Opfer der Horrors des Proto-KGBs.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben, sagt Kirill. Und Russlands Lehrer wähnen sich auf der Siegerseite. „So eine kritische Auseinandersetzung wie es sie in Deutschland nach Hitler gegeben hat und gibt, findet in Russland nicht statt. In der Schule lernt man, dass Stalin zur Sowjetunion gehört und Lenins Idee umgesetzt hat.“ Im Zentrum jeder Stadt, die wir bis jetzt besucht haben, steht er da, mit seinem Haarkranz, mal kämpferisch, mal nachdenklich. Lenina ul., die Lenin Straße, hier trifft man sich, im Schatten der Statue machen Mädchen Selfies, der Nationalheld der Oktoberrevolution steht mit beiden Beinen fest in Russlands Alltag.

Auch Stalin gehörte in Russland ins tägliche Leben. „Um das zu verdeutlichen, haben wir eine Büste von ihm in die Glasvitrine gestellt gleich neben den Alltagsgegenständen aus den 30er und 40er Jahren,“ erklärt Kirill.
Verstehe ich, warum aber auch eine neben der Kasse im Eingang thront, das verstehe ich nicht. Das wäre so, als würde Hitlers Konterfei den Besucher des Mahnmals in Berlin begrüßen.

Was für einen Stellenwert die Aufklärungsarbeit in Tomsk beim Regionalparlament hat, kann man erleben, wenn man den Ort der Exekutionen in der Nähe von Tomsk besucht. „An eurer Stelle würde ich da nicht hinfahren, dort ist alles vermüllt, da leben Obdachlose“, sagt Kirill. Im Museum hängen Bilder von der Todesklippe. Ein liebloses Holzkreuz, wie es an Deutschlands Landstraßen nach Wildunfällen aufgestellt wird, erinnert an die Massenerschießungen.

„1937/1938, das war in Russland das Jahr des Terrors.“ Zu jedem Opfer, das als schwarzweißes Bild an der Wand hängt, kann Kirill. etwas erzählen. Und er spricht vom seinen getöteten Ur-Großvätern. Um Spuren zu verwischen, bekam die Familie einfach einem anderen Namen. Kirill tippt auf den Familiennamen auf seinem Namensschild. „Das ist ein falscher Name, den echten werde ich wohl nie erfahren.“

Als ich ihn fotografieren will, springt er auf die Bank der Gefängniszelle, auf die sich die Gefangenen tagsüber nicht mal setzen durften. Kirill macht coole Gesten, besteht auf sein Basecap. Und darauf, dass er mehr ist als ein Mahnmal seiner Familientragik.

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